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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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überlegen, womit genau ich herausrücke. Ob ich alles erzähle oder nur eine Teilwahrheit – falls das überhaupt geht.
    Falk bündelt die schätzungsweise vorletzte Portion Brennholz und verschwindet ohne ein weiteres Wort in die Stube. Ich mache mich mit leisem Ekelgefühl daran, Linnas Hinterlassenschaften in den Schnee zu entsorgen, bevor ich mich vor den Anbau auf die Terrasse stelle und in diese bizarre weiße Welt um mich herum schaue. Wir sind wie in Watte gepackt. Der Schnee schluckt jedes Geräusch, und wenn doch eines zu uns hindurchdringt, klingt es fern und gedämpft, fast wie eine akustische Halluzination. Trotzdem bin ich mir sicher, dass der Skilift nicht läuft. Immer noch nicht. Niemand hat ihn gehört außer mir, doch ich weiß, dass ich meinen Ohren trauen kann. Wenn die Piste gesperrt ist, herrscht nach wie vor Lawinengefahr. Rettung ist nur über einen Hubschrauber möglich – falls der einen Landeplatz findet. Ich habe noch nie in meinem Leben so viel Schnee gesehen, auch für die Einheimischen muss es ein Ausnahmezustand sein.
    Simon traue ich am ehesten zu, dass er Hilfe ruft, obwohl die anderen sich dagegen entschieden haben. Vielleicht hat er es bereits getan. Und dann? Wir werden einer nach dem anderen abtransportiert, fahren wieder nach Hause und ich werde nie erfahren, wer diese immer mysteriöser werdenden Dinge verbrochen hat. Aber besteht eine solch große Not, dass wir uns abholen lassen müssen? Bis auf Simon, der an einer harmlosen Erkältung leidet, sind wir gesund. Wir drohen nicht zu verhungern und auch nicht zu erfrieren. Noch nicht.
    Also muss ich damit rechnen, dass wir bleiben. Gäbe es denn noch etwas, was sie ans Licht zerren könnten? Ein Geheimnis, eine Lebenslüge? Mein bislang bestgehütetes Geheimnis – der Zeitpunkt des Verlustes meiner Jungfräulichkeit – habe ich ihnen freiwillig offenbart, die Sache mit der Klapse haben sie eigenhändig ausgegraben. Klapse … Dieses Wort hat mich vorhin schon irritiert. Nachdenklich fixiere ich eine Tanne, die so dick von Schnee bedeckt ist, dass man sie fast nicht mehr als Baum erkennen kann, sie sieht eher aus wie eine abstrakte Skulptur aus Styropor. Klapse. Das ist ein gebräuchliches Wort und wird wahrscheinlich überall in Deutschland verstanden. Aber es gibt so viele Begriffe, die man verwenden könnte. Anstalt, wie Mutter es immer getan hat. Psychiatrische. Nervenklinik. Irrenhaus. Hat Jules beim Flaschendrehen nicht ebenfalls Klapse gesagt, als er nach meiner Mutter gefragt hat (und ich habe nicht gelogen in meiner Antwort!)? Ja, ich habe mich sogar darüber geärgert, weil ich diesen Begriff als abfällig empfinde. Er hätte es auch neutraler formulieren können. Kann das Zufall sein? Dass er Klapse sagte und in dem sonst so sachlichen Satz an der Wand ebenfalls von einer Klapse die Rede ist? Oder hat der Verfasser sich in seiner Wortwahl von Jules inspirieren lassen?
    Jules benehme sich seltsam, hat Falk gesagt und in den Raum geworfen, er könnte auf mich stehen. Aber das hätte ich merken müssen! Ich merke es sofort, wenn Männer von mir angetan sind. Tausend Mal berührt, tausend Mal ist nichts passiert – das ist ein Song, dessen Wahrheitsgehalt ich schon immer bezweifelt habe. Ich glaube nicht daran, dass es so etwas gibt. Und wenn man es genau betrachtet, wiegt Falks Argument nicht schwer genug. Jules ist ausgerastet, weil ich meinen Ausstieg verkündet habe und damit klar war, dass es Linna singt nicht mehr geben würde. Doch Jules hätte sich weiterhin mit mir treffen können, ohne Band. Das haben wir schließlich vorher auch getan. Und warum sollte Jules mich anprangern, wenn er heimlich etwas für mich empfindet? Das widerspricht sich. Nein, die Hinweise führen immer wieder zu Maggie. Obwohl es auch für mich schwer vorstellbar ist, dass sie beides tut, innerhalb kürzester Zeit, mir die Haare abschneiden und eine diffamierende Botschaft an die Wand pinseln. Wenn sie das war, habe ich sie all die Jahre maßlos unterschätzt.
    Ich würde gerne noch ein wenig hier draußen stehen bleiben, allein und ohne Wände um mich herum, aber die Kälte treibt mich zurück in die Hütte, wo Falk bereits den Ofen eingeheizt hat. Er steht neben dem Fenster und hält eine der braunen, bauchigen Flaschen aus dem Anbau gegen das Licht, um das Etikett zu lesen.
    »Marillenschnaps«, entziffert er. »Ich glaub, den werden wir heute Abend mal köpfen.«
    »Macht das«, entgegne ich friedfertig. Sauft euch ruhig die Köpfe

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