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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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skalpiert hat?
    Keiner erwidert meinen Gruß.
    Stattdessen brandet mir eine Welle des Schweigens entgegen. Entsetztes Schweigen? Ungläubiges Schweigen? Na, wer hat jetzt das Gefühl zu träumen? Ich oder ihr? Mit lockeren Schritten gehe ich zur Sitzecke rüber und schiebe mich ans andere Kopfende gegenüber von Simon. Sogar er hat aufgesehen, ich spüre es, er starrt mich an.
    »Tssss«, entfährt es Maggie, ein Tssss, das sich unmöglich kategorisieren und interpretieren lässt. Es kann alles sein, Verwunderung, Abscheu, Spott, Häme, Belustigung. Aber Freude ist es nicht. Wer sich freut, macht nicht »tssss«.
    »Hä? Das … aber … das …«
    Dieses Gestotter kommt von Tobias und ich schaffe es nicht mehr, auf meinen Teller zu schauen. Langsam hebe ich die Lider. Tobi zeigt nicht auf mich, wie ich angesichts seines Gestammels vermutete, aber sein Mund steht offen und er schüttelt den Kopf, bevor er heftig die Luft einzieht und sich dabei verschluckt. Als wäre das sein Startsignal, beginnt auch Simon zu husten und sofort klopft Maggie ihm auf den Rücken. Tobis Bestürzung will kein Ende nehmen und sein ungläubiges Starren weckt mit einem Mal meinen Zorn über das, was mir heute Nacht angetan wurde. Ich bin stinksauer. Ich muss Tobi nicht fragen, wie er meine Frisur findet, um seine Reaktionen zu deuten. Er kann nicht glauben, dass ich mir meine eigenen Haare abgeschnitten habe, diese wunderschönen, langen, seidigen Ebenholzhaare. Er bemüht sich um einen höflichen Gesichtsausdruck, ja, das sehe ich, aber es ist zu spät.
    »Sie haben mir lang nicht mehr gefallen«, erkläre ich schulterzuckend und schmiere Marmelade auf meinen Pumpernickel. »Wollte mal was anderes. Außerdem ist es so praktischer.« Wie zur Bestätigung fahre ich mir mit der Hand über meinen raspelkurzen Nacken, was sich immer noch nackt und kahl anfühlt. Ich werde mich niemals daran gewöhnen können.
    »Okay«, murmelt Tobi eingeschüchtert und greift sich ein Stück Brot aus dem Korb, um lustlos daran herumzuknabbern. Tja, bei dem Anblick vergeht einem der Hunger.
    Ich spüre, dass Falk mich taxiert, während ich verbissen kaue, aber ich habe jetzt nicht die Nerven, ihn anzusehen; meine Beherrschung reicht gerade so, um das Kribbeln in meinen Händen zu ertragen und die Wut in Zaum zu halten, die meine Innereien mit Eis überzieht und mein Herz starr werden lässt.
    Unser Geschirr und Besteck klappert unentwegt, aber Worte fallen keine, als hätten wir das Reden verlernt. Ich nehme undeutlich wahr, wie Maggie mich bei jeder Gelegenheit mit ihren Blicken streift, und auch Tobi fällt es schwer, mich nicht anzusehen. Sogar Simon hebt immer wieder seinen schmerzenden Kopf, um mich zu mustern, aber keiner sagt etwas dazu. Ist Maggie sprachlos, weil sie damit nicht gerechnet hat? Sie kann nicht damit gerechnet haben! Nur mit einer verkorksten Frisur, nicht mit einer gelungenen. Wenn sie es war – nur wenn …
    Simon räuspert sich ausgiebig; ein schleimiges Geräusch, das mir sofort den Appetit verdirbt. Ich lasse mein Brot auf den Teller fallen und schaue auf. Niemand begegnet meinem Blick. Jeder ist mit sich beschäftigt, in einem dumpfen, gereizten Brüten. Hüttenkoller, denke ich spontan. Es geht gar nicht um meine Haare. Wir stehen kurz vor einem handfesten Hüttenkoller. Nur ein Funke reicht, um die Situation eskalieren zu lassen.
    Schon beim Aufstehen habe ich gesehen, dass es immer noch schneit; wir müssen nachher wieder Schnee schippen, wenn wir den Anbau und unsere letzten Holzvorräte erreichen wollen, und mit jedem neuen Tag wird fraglicher, ob wir jemals heil hinunter ins Dorf kommen. Unsere Handyakkus werden schwächer, die Gasflaschen leeren sich, das Brennholz reicht noch für maximal zwei Tage. Es fühlt sich nicht nur so an, als seien wir gefangen. Wir sind es. Und doch macht niemand den Vorschlag, Hilfe zu rufen.
    Tobi erhebt sich schniefend und trägt sein Brettchen zur Spüle. Auch ich gebe auf und schiebe meinen Teller von mir weg. Es hat keinen Sinn, in dieser Stimmung etwas zu essen.
    »Ich mach oben mal den Ofen an, für die Probe. Okay?« Tobi blickt erst mich fragend an, dann Maggie. Sie nickt nur, ihre Aufmerksamkeit liegt wieder bei Simon, ohne den sie sowieso nicht proben können, und er sieht nicht so aus, als sei er heute zu irgendetwas Kreativem in der Lage.
    War es das etwa schon?, denke ich herausfordernd. Das war alles? Will niemand eine abfällige Bemerkung zu meinen Haaren loswerden? Oder geht

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