Linna singt
im Klo runterzuspülen. Das Valium macht einen gleichgültig und lethargisch und das war das Gegenteil von dem, was ich jetzt gebrauchen konnte. Am liebsten hätte ich den Pflegern eine reingehauen, wenn sie mich dazu nötigten, sie in meinen Mund glotzen zu lassen. Aber dann hätte ich ja nur bestätigt, warum ich eingeliefert wurde … und da drinnen geht es nur darum: Musst du bleiben oder darfst du raus? Das ist das Gesprächsthema Nummer eins. Jeder will raus, jeder …«
Meine Kehle ist so trocken, dass ich ein paar Schlucke Wasser trinken muss, um weitersprechen zu können. Auch damals litt ich an unerträglichem Durst. Ich denke, es lag an den Tabletten. Und jetzt liegt es an der ungeheuren Anspannung, die an meinen Nerven reißt und mich innerlich zum Zittern bringt; alles in mir bebt. Falk ist der Letzte auf der Liste der Menschen, mit denen ich über diese Geschichte hätte reden wollen. Aber es ist besser, er kennt die Wahrheit, als dass er und die anderen sich in wüsten Spekulationen verlieren.
»Ich hab versucht, mich wach zu halten, und mir von einer Praktikantin einen Stift und ein bisschen Papier erkämpft, damit ich zeichnen konnte. Erst hab ich Tierbilder für meine Zimmergenossinnen gemalt, dann … dann hab ich frei gezeichnet.« Was nicht die klügste Idee war, denn meine Bilder haben alles andere als eine beruhigende Ausstrahlung. Wenn ich mit ihnen anfange, weiß ich nie, wie sie am Ende aussehen werden, ich zeichne nur nach Gefühl und reihe ein Detail an das andere und am Schluss ist fast immer ein Auge dabei, das mich anstarrt, und irgendwo hängt ein fahler, kranker Mond, halb verdeckt von gezackten Wolken. Meine Zeichnungen sind düster und doch märchenhaft, wie aus einer dunklen, vergessenen Zwischenwelt. Meine Professoren haben sie überzeugt, die Pfleger sahen darin nur einen weiteren Beweis dafür, dass ich bei ihnen schon richtig aufgehoben war. Doch Falk sagt nichts zu dieser Episode aus meiner kurzen Künstlerkarriere als Psychiatriepatientin; entweder er kennt meine Art zu zeichnen nicht oder er hat meine Bilder nie als unheimlich empfunden.
»Am Montagmorgen hab ich gleich nach dem Frühstück Druck gemacht und erneut nach einem Arzt verlangt. Kurz vor Mittag war es dann so weit, die Schlösser öffneten sich, ich durfte eine Etage nach unten gehen und wurde in ein viel zu großes Behandlungszimmer gebeten. Wie fast überall mit Gittern vor den Fenstern. Als eine schmale blonde Ärztin reinkam, dachte ich, okay, das war’s, ich komme hier nie wieder raus. Ich hatte mich auf einen Flirtangriff eingestellt und gehofft, dass sich damit die Türen in die Freiheit öffnen, aber diese Frau war im Alter meiner Mutter und dazu hochgebildet – solche Frauen reagieren so gut wie immer negativ auf mich. Doch sie hörte mir wider Erwarten zu und schon nach den ersten Antworten, die ich ihr in aller Ruhe und Wachheit gab, sagte sie: ›Sie gehören nicht hierher.‹ Das war wie ein Befreiungsschlag, ich konnte es kaum fassen. Ich weiß nicht, warum sie mir zuhörte und glaubte und mich für zurechnungsfähig hielt, aber ich habe die Chance genutzt und ihr erzählt, was an dem Abend los war und wie sehr ich leide, wenn meine Mutter so ist, wie sie ist. Ich habe nicht gejammert oder über Mutter geschimpft, ich habe versucht, fair zu sein …«
»Das warst du auch jetzt, Linna. Du jammerst nicht und du bleibst fair.« Erschrocken schaue ich auf, ich hatte Falk für einen Moment vergessen und sein Einwand bringt mich aus dem Konzept. »Du hast ihr von deiner Mutter erzählt«, hilft er mir auf die Sprünge. Mit allen zehn Fingern reibe ich mir über die Stirn, um mich wieder konzentrieren zu können und nicht zu vergessen, dass mir jemand zuhört. Ich darf das nicht vergessen.
»Ja. Ich erzählte ihr von zu Hause und dem, was geschehen war. Nach einer Stunde hatte ich den Entlassungsschein und sie rief meine Mutter an – nicht nur damit sie mich abholte, sondern auch für ein Gespräch zu dritt. Damit hat Mutter nicht gerechnet, ja, schon mit einem Gespräch, aber sie ging wohl davon aus, dass ich darin angeprangert werde und als die Böse dastehe. Aber die Ärztin blieb sachlich, sie sprach von Abgrenzungsproblematiken und davon, dass sie mir mehr emotionalen Freiraum lassen müsse, ich sei ihr Kind und kein Partnerersatz und so weiter … Dieses ganze psychologische Trara, das nichts bringt, nicht bei meiner Mutter. Mir war klar, dass das nichts ändert, aber allein zu erfahren, wie
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