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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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es ist, wenn jemand für einen spricht, das war – in diesem Moment war es beruhigend und erlösend. Aber danach …« Ich verfalle in brütendes Schweigen. Danach fing alles eigentlich erst an.
    »Es wurde schlimmer, oder?«, führt Falk meine Gedanken behutsam zu Ende. Die Tränen sind nun so nah, dass ich ein paar Minuten weiterschweigen muss, um mich zu sammeln.
    Ja, es wurde schlimmer. Vor allem wurde ich schlimmer. Das ist das, was ich bis heute nicht kapiere. Ich strampelte mich frei und wurde zu dieser verkappten Kratzbürste, die ich jetzt bin. Doch in Wahrheit habe ich mich gar nicht freigestrampelt. Das sieht nur so aus, für die anderen. Manchmal ist die Schreckensherrschaft aus der Ferne erbarmungsloser als die in nächster Nähe. Denn sie lässt so unendlich viel Raum für Unausgesprochenes, ein unsichtbares Gespinst aus Vorwürfen und Schuldzuweisungen. Es wird selbst dann noch da sein, wenn sie nicht mehr am Leben ist. Es hört nie auf.
    Ich greife nach der Schranktür, um sie so weit zuzuziehen, dass ich mich in ihrem Schatten verbergen kann.
    »Weißt du denn gar nicht, was deine Mutter wirklich über dich denkt?«
    Ich schiebe mich noch weiter in das Dunkel des Schrankes, bis ich meinen Rücken fest gegen die harte Holzwand pressen kann.
    »Nein. Ehrlich, ich weiß es nicht. Ich hab mal einen Brief gefunden, sie hatte ihn auf ihrem Schreibtisch liegen lassen, er war an einen ihrer früheren Verehrer gerichtet. Es stand auch ein Satz über mich drin – na, vermutlich war das nur der Anfang, aber weiter wollte ich nicht lesen. Er hat mir gereicht. ›Linna ist schön, aber gefährlich.‹ Das hat sie ihm geschrieben. Über ihre einzige Tochter, ihr einziges Kind. Schön, aber gefährlich. Was soll das heißen?«
    Falk antwortet nicht. Ob er das Gleiche über mich denkt? Dass ich das bin: schön, aber gefährlich? Es ist so … so nichtssagend. Fast schon distanziert. Sie sagt etwas Positives und wertet es im selben Zug ab, beinahe als stünde beides in einem Zusammenhang. Ich höre, wie Falk tief ein- und wieder ausatmet. Dann räuspert er sich.
    »Ich war nie wortgewandt und ich kann mich nicht besonders gut ausdrücken. Ich Versuchs trotzdem, okay?«
    »Okay«, stimme ich schüchtern zu.
    »Deine Mutter scheint ein mächtiges Problem zu haben. Oder mehrere Probleme. Mit sich selbst, mit dir, mit ihrem Leben. Womöglich ist sie ernsthaft krank, ja. Aber du bist nicht verantwortlich dafür. Und nur sein Leiden macht einen Menschen nicht automatisch zu einem guten Menschen. Also, was ich sagen will: Sie leidet, aber das bedeutet nicht, dass du es mittragen musst.« Er lacht leise in sich hinein, verwundert und ein wenig zweifelnd. »Unglaublich. Lavinia Sommer steht unter der Fuchtel ihrer Mutter. Das würde man nicht von dir denken, Mozzie.«
    »Man würde so einiges nicht von mir denken. Genau das ist ja mein Problem.«
    »Mein Dad war auch sehr streng zu mir«, sagt Falk nach einer kleinen Pause. »Nichts war ihm gut genug. Er wollte, dass ich mein Abi mache und studiere und in seine Fußstapfen trete, aber das – ich konnte das nicht. Ging nicht.«
    Oh Falk – hast du gar nicht verstanden, was ich dir erzählt habe? Eine strenge Erziehung hätte ich dankend angenommen. Das mit Mutter und mir spielt sich auf einer ganz anderen Ebene ab. Selbst ein Psychologe würde daran irgendwann verzweifeln. Doch ich sage nichts, lasse ihn weiterreden. Er tut es, um mich zu trösten, und das ist mehr, als sie in den vergangenen Jahren je fertiggebracht hat. Ich kann nicht erwarten, dass er begreift, gegen welch unbesiegbaren Geister ich kämpfe.
    »Es hat ihm das Herz zerrissen, als ich nach Oz gegangen bin. Und er war so glücklich, als ich zurückkam, und jetzt … Irgendwo liebt er mich halt doch.«
    »Natürlich liebt er dich.« Wie sollte man einen Sohn wie Falk nicht lieben? Das geht gar nicht. So sicher ich mir bin, dass Falks Vater seinen einzigen Sohn über alles liebt, so unsicher bin ich mir darin, ob meine Mutter mich liebt. Über Liebe wurde nicht gesprochen. Ich habe nie von ihr gehört, dass sie mich liebt oder wenigstens lieb hat, und als ich ihr das eines Tages vorwarf und sie fragte, warum sie mich überhaupt in diese Welt gesetzt habe, sagte sie nur: »Ich brauche dich als Kind.« Auch so ein Satz, den ich nicht verstanden habe.
    Und was zum Henker ist Oz? Ich weiß, es gehört zu den Dingen, die ich nicht erfahren will und vor denen ich mich nicht mehr lange verstecken kann, ob ich die

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