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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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verloren gingst du fort … Du bist fortgegangen, Falk. Nicht ich. Ich war nur still und verloren.
    »Ich kann nicht wieder singen, Falk.« Ich ziehe die Schranktür noch ein Stück weiter zu. »Ich kann nicht.«
    »So was verlernt man nicht, Linna. Niemals. Das ist genauso wie Schwimmen oder Tauchen, du musst nur ins Wasser geschmissen werden und schon tut dein Körper, was er tun muss.«
    »Ja, mag sein«, erwidere ich hitzig, »mag sein, dass ich die Töne treffe, aber meine Stimme wird nicht mehr die alte sein, sie wird schlechter sein, ich werde nicht mehr so tief und so hoch kommen wie früher, nicht mehr mit ihr spielen können, nicht mehr –«
    »Das glaube ich nicht«, widerspricht Falk überzeugt. »Deine Sprechstimme ist noch dieselbe wie damals, nur etwas reifer und erwachsener. Pure Verführung.« Jetzt grinst er, ich kann es deutlich hören. Pure Verführung? Meint er das ernst? Ich wusste nicht, dass das so ist. Für mich klingt sie belegt, als hätte ich einen leichten Schnupfen und einen rauen Hals, schon immer war das so, wenn ich redete.
    »Falk, für mich existieren nur hundert Prozent. Nicht achtzig oder neunzig, weder beim Singen noch beim Malen noch beim Sport. Hundert Prozent oder gar nichts.« Es gibt nicht viele Lebensbereiche, in denen ich ehrgeizig bin. Die Schule war für mich eher nebensächlich, worin Mutter stets einen persönlichen Affront sah, aber ich war überzeugt davon, dass ich Fächer wie Mathematik, Physik oder Chemie später nicht brauchen würde. Also konnte ich mir meine Vier leisten, manchmal auch eine Fünf. Aber in den wenigen Bereichen, die mir wichtig waren, gab es keine Kompromisse. Mein sportliches Talent hat Mutter nie gefördert, ihr war lediglich die klassische Musik eine Herzensangelegenheit. Doch wenn ich joggen ging, hatte ich immer meine Stoppuhr dabei und die wurde benutzt. Auch heute gibt es keinen Lauf ohne einen abschließenden Sprint, genauso wie es kein Training gibt, nach dem ich nicht in Schweiß gebadet bin. Habe ich nur den Verdacht, dass ich diese Leistung nicht erbringen kann, gehe ich gar nicht erst hin.
    »Warum bist du denn dann überhaupt hier? Wenn du nicht mehr singen willst?«
    Ich will schon. Ich kann nur nicht. Trotzdem ist es eine begründete Frage, die Falk mir stellt.
    »Weil ich ihr für ein paar Tage entkommen wollte. Und weil …« Soll ich es ihm sagen? Dass es seinetwegen ist? Auch seinetwegen? Dass ich ihn wiedersehen wollte? »Ich wollte frei sein. Ist mir ja wunderbar gelungen«, versuche ich mich an einem Hauch von Galgenhumor. Ich bin aus einem Gefängnis ins nächste geschlittert, vom freien Vollzug in den Hochsicherheitstrakt, wo die Schikane der anderen Häftlinge mich im Minutentakt stolpern lässt.
    Falk lacht nicht; ich weiß nicht, wie ihm zumute ist, ich sehe ihn nun nicht mehr, so weit habe ich die Tür zugezogen.
    »Diese Ärztin, die mit dir und deiner Mutter geredet hat, in der Klinik …« Falk überlegt und die plötzliche Stille macht mich unruhig. Möchte er jetzt etwa eine Diagnose hören? Die gab es nicht.
    »Was ist mit ihr?«
    »Hat sie dir irgendetwas geraten? Dir oder euch gesagt, was ihr tun sollt?«
    »Ja, hat sie. Sie hat mir geraten, mich mit meiner Mutter in Beisein eines Therapeuten auszusprechen und ein Antiaggressionstraining zu machen.«
    »Und was hast du getan?«
    Obwohl Falk mich nicht sieht, zucke ich mit den Schultern. »Ich bin von zu Hause ausgezogen und hab mit dem Boxen angefangen.«
    »Mhm.« Schon Falks »Mhm« klingt wie ein kleiner, mühevoll unterdrückter Lacher, aber nach einer kurzen Pause bricht es ohne jede Zurückhaltung aus ihm heraus, er lacht aus vollem Herzen, ich höre sogar, wie er sich dabei auf das Knie schlägt. Anfangs grinse ich nur, dann merke ich, wie sich mein Zwerchfell hebt und senkt, fast wie beim Singen, bis auch ich mich nicht mehr beherrschen kann und lospruste. Sollte meine Stimme wahrhaftig die pure Verführung sein, mein Lachen ist es nicht. Ich kriege keine Luft beim Lachen, das ist mein Problem, ich entgehe immer nur knapp dem Erstickungstod, und so muss ich dabei sehr unweibliche Geräusche von mir geben, um doch noch Luft in meine flatternden Lungen zu pressen.
    Ich höre, wie Luna vom Bett springt und aufgeregt japst, endlich ein bisschen Leben in der Bude – oder ist sie vom Bett gesprungen, weil Falk aufgestanden ist?
    »Hallo, Schrankmonster.« Er klopft gegen die Tür, direkt neben meinem Ohr, und ich lehne instinktiv meine Wange dagegen,

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