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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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ich bin ihr eigenes Fleisch und Blut. So ist es immer. Früher oder später findet sie einen Grund, weshalb die Menschen um sie herum mangelhaft sind. Ich lieferte ihr einen nach dem anderen.
    »An diesem Abend konnte ich es mir nicht mehr anhören. Ich hab schon vorher oft versucht, ihr klarzumachen, dass ich nicht so bin, wie sie denkt, und dass es mir wehtut, wenn sie so über mich spottet und mir Beleidigungen an den Kopf wirft, aber dieses Mal bin ich weiter gegangen … ich fühlte mich so ohnmächtig, ich konnte nicht anders … Ich hab sie angeschrien, dass es nicht meine Schuld war, sondern dass er es nicht mit ihr ausgehalten hat und dass ich ihn verstehe, dass ich ebenfalls gehen würde, wenn ich nur könnte, aber ich bin ihre Tochter und muss bleiben und ich hasse sie dafür … dass sie mich in die Welt gesetzt hat …«
    Ich halte mir meinen Mund zu, dabei kann ich nicht rückgängig machen, was ich gesagt habe. Das wird immer bleiben.
    »Ich hab angefangen, Sachen kaputt zu machen, den ganzen Schöner-wohnen-Dekokram, der bei ihr rumsteht. Ich hab das Zeug mit beiden Händen von den Regalen gefegt, eines nach dem anderen, ich wollte das ganze Haus zerstören und dann … dann hat sie den Klavierhocker genommen und ist mit ihm in den Händen auf mich zugelaufen. Den Rest kennst du.«
    Ich hebe die Schultern und lasse sie wieder fallen. Selbst diese kleine Geste kostet mich Kraft. Ich fühle mich vollkommen ausgelaugt.
    »Sie hatte eine Kopfwunde und ich rief den Hausarzt an, aber der alarmierte den Notarzt. Es war nicht schlimm, musste nicht einmal genäht werden, aber sie brachten sie vorsorglich ins Krankenhaus und mich … mich nahmen sie auch mit.«
    Ich schlucke, mein Mund ist ausgedörrt, wie damals. Ich hatte keinen Ton mehr hervorgebracht und erst recht nicht konnte ich erklären, was eigentlich geschehen war, weil ich mich so schuldig fühlte, dass mir jede Erklärung wie Verrat vorgekommen wäre.
    »Es war Wochenende, Freitagnacht, und sie wussten nicht recht, was sie mit mir tun sollten, schließlich war ich nicht körperlich verletzt, sondern gewalttätig geworden, eine andere Version gab es in ihren Augen nicht, und so … sie fuhren mich nach Landeck. In die Psychiatrische. Und da es Nacht war und kein Arzt zur Hand, der ein vernünftiges Gespräch mit mir führen konnte, stellten sie mich mit Valium ruhig. Man musste mich nicht ruhigstellen, ich war ruhig, ich weinte nur noch, aber diese Prozedur scheint dort zum festen Programm für Neuankömmlinge zu gehören. Erst mal sedieren. Außerdem wurden mir alle scharfkantigen und spitzen Gegenstände abgenommen, die ich bei mir hatte. Nicht einmal meinen Kamm durfte ich behalten. Ich kam in ein Zimmer mit einer Frau, die richtig daneben war, immer wieder fing sie an, zu schreien und sich auszuziehen, um dann nackt durch den dunklen Gang zu rennen und sich auf ihre Brüste zu trommeln, wie ein wild gewordener Gorilla, es war furchtbar …«
    Ich merke, dass ich an jedem neuen Satz scheitere, ich kann gar nicht ausdrücken, wie es mir dort erging. Ich hatte das Gefühl, dass alle anderen außer mir schon tot seien. Entweder sie rasteten aus oder sie blieben leblos und still, wie Puppen. Manchmal auch beides in fliegendem Wechsel. Ich war die Einzige, die noch Tränen hatte.
    »Am nächsten Morgen hab ich nach einem Arzt gefragt, doch die Pfleger vertrösteten mich auf den Montag, ich sei ja kein Suizidfall, sondern nur verhaltensauffällig. Ich sollte Valium schlucken und die Füße still halten.«
    Ich riskiere einen Blick zu Falk, doch sein Gesichtsausdruck erscheint mir weder entsetzt noch angewidert, also beschließe ich weiterzureden, so schwer es mir auch fällt. Die Szenen in meinem Kopf sperren sich dagegen, formuliert zu werden, es ist ein einziges, grelles Durcheinander und ich weiß nicht, wie ich Struktur hineinbringen soll. Ganz ähnlich erging es mir am ersten Tag in der Klinik. Das Valium zerfraß jeden Gedanken, den ich zu Ende führen wollte. Schwarze Leere im Kopf und das Gefühl zu fallen, ohne jemals aufgefangen zu werden.
    »Ich hab’s dann gehandhabt wie im Film, ich hab die Tabletten unter die Zunge geschoben und den Pflegern was vorgespielt. Aber die sahen mir an der Nasenspitze an, dass ich auf Rebellion aus war, also machten sie die Mundkontrolle, zwangen mich, den Kiefer zu öffnen. Ich hab es trotzdem geschafft, die Tabletten nicht zu schlucken und in meiner Hosentasche zu bunkern, bis ich eine Gelegenheit fand, sie

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