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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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immer mehr Zeit, mich wieder von ihnen zu lösen. Ich sehe einen Falk, wie wir ihn früher in der Schule und bei unseren Bandproben an keinem einzigen Tag erleben durften: souverän bis in die Haarspitzen, voller Lebensfreude und strotzend vor Kraft und Abenteuerlust. Glücklich. Er war dort unten glücklich.
    Meistens ist er allein auf den Bildern, irgendwo mitten in der Natur, und fast immer ist Wasser in der Nähe oder er befindet sich im Wasser; es scheint sein Element zu sein. Falk mit nacktem Oberkörper in der Tür eines alten Leuchtturms, im Hintergrund das leuchtend blaue Meer; Falk auf dem Dach eines Campingmobiis, eine Dose Bier in der Hand und mit strahlendem Colgate-Grinsen; Falk im Dschungel neben einer gigantischen Liane; Falk am Lagerfeuer mit seiner Gitarre auf den Knien, den Mund zum Singen geöffnet; Falk, wie er gerade mit einem Buschmesser einen Fisch ausnimmt; Falk mit der Angel in der Hand, die Oberarmmuskeln angespannt und, wie ich mit einem Beben im Bauch feststellen muss, astrein definiert. Dann Falk mit feixendem Blick und zwei riesigen Muscheln in der Hand, die er vor sich hält wie Brüste; Falk an Bord eines Bootes, Falk im … oh. Falk im Taucheranzug, den er bis zur Hüfte herabgewickelt hat, während er mit konzentriertem Blick die Ausrüstung prüft. Ich muss schlucken, als ich das nächste Bild betrachte. Falk in der Hocke an Bord eines Bootes, wieder im Taucheranzug, in seiner rechten Hand eine Taucherbrille und vor sich ein halbes Dutzend Touristinnen, die bereits ihre Flossen übergestreift haben und ihm aufmerksam zuhören, während er zu ihnen aufsieht und ihnen erklärt, wie sie die Brille aufsetzen müssen. Die Frauen hängen an seinen Lippen. Sie beten ihn an, ich sehe es.
    Das ist es also, was er macht. Er taucht. Er entführt Touristen unter Wasser. Es muss so sein, denn er strahlt auf diesem Bild eine Gelassenheit und Ruhe aus, wie sie nur ein Mensch besitzen kann, der diese Handgriffe schon oft getan hat und genau weiß, was da unten passieren kann. Dem man blind sein Leben anvertraut. Auch ich würde es tun.
    Ich wusste von all dem nichts. Weder von seiner überbordenden Liebe zur Natur noch von seinem Faible für Wassersport. Doch ja, wir haben ihn oft nicht erreicht, weil er am See herumstromerte und das Handy ausgeschaltet ließ; auch wohnte seine Familie ganz in der Nähe vom Binsfeld, am äußersten Rand von Speyer. Die Lovensteins sind keine Pfälzer, sondern stammen aus dem Norden Deutschlands. Wahrscheinlich von der See. Dieses Erbe muss in ihm durchgebrochen sein wie das Erbe meiner Großmutter in mir. Nur habe ich nichts draus gemacht.
    Das ist es, was ich damals in seinem Blick gesehen habe und was ihn immer so weit weg wirken ließ – eine unbestimmte Suche nach der Ferne und der See. Ja, Falk hat Matrosenaugen, voller Sehnsucht nach einem Land, in dem er so viel Platz hat, wie Deutschland ihm niemals bieten könnte, wo ihm das Meer zu Füßen liegt. Ich kann ihn verstehen – und wie ich ihn verstehen kann! Mein Leben lang sehne ich mich danach, in unbegrenzte Weiten blicken zu können, ohne Hindernisse für meine Augen, ohne Wände um mich herum. Bei mir sind es die rauen, baumlosen Landschaften der Mongolei, von denen ich träume, bei ihm sind es der pazifische Ozean und die Dschungelwelt von Queensland. Hier kann er etwas sein, was ihm bei uns nie gelungen wäre. Er lebt es, the Big Blue.
    Meine Tränen kommen so schnell, dass ich keinen Versuch unternehme, sie zu stoppen. Schluchzend klicke ich mich durch die nächsten Fotos, obwohl eines mehr schmerzt als das andere, weil ich mit jedem neuen Bild deutlicher erkenne, wie weit entfernt ich von dem bin, was ich hier sehe. Ich dachte, ich sei mir treu geblieben, dass es etwas Gutes sei, noch so zu sein wie vor fünf Jahren, aber was habe ich gemacht? Mich in meiner Wohnung verkrochen, kranke Bilder gemalt und sie schließlich durch noch krankere Illustrationen ausgetauscht. Ich habe in einem emotionslosen, durchgeplanten Akt meine Jungfräulichkeit an irgendeinen notgeilen Deppen verloren, der heute nichts mehr in mir rührt, und bin in den Jahren danach ab und zu gelangweilt auf Jagd gegangen, von vornherein im sicheren Wissen, dass sie mich leer und gedemütigt zurücklassen wird. Ich bin nicht verreist, habe nichts von der Welt gesehen, habe keine neuen Menschen an mich herangelassen und weiß immer noch nicht, wozu ich eigentlich hier bin. Mein einziger Freund, Martin, weiß nichts über mich und ich

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