Linna singt
nichts über ihn. Rocky nennt er mich und er hat recht. Ich bin wie ein Felsen, vielleicht nett anzusehen, aber schroff und unnahbar. Ich habe mein Leben vergeudet, um mich nach fünf ereignislosen Jahren auf einer eingeschneiten Hütte wiederzufinden und festzustellen, dass ich noch immer in dem gleichen klebrigen Netz hänge wie damals. Das Einzige, was ich nicht bereue und nie mehr missen möchte, ist das Boxen.
Ich möchte auch von dem kosten, was Falk gefunden hat, ich will mein letztes Geld zusammenkratzen, ein billiges Ticket kaufen und runter nach Australien fliegen, zusammen mit Falk, ich möchte zu all diesen Orten auf den Fotos reisen und sie mit ihm erleben. Ich will mich von ihm unter die Meeresoberfläche ziehen lassen und bunte Fische beobachten, mich neben den Wasserfall in den Dschungel stellen, wie er es auf dem nächsten Foto tut, mit ihm am Lagerfeuer sitzen und singen, ja, vielleicht könnte ich dort wieder singen. Ich möchte die feuchte, milde Wärme der Tropen auf meiner Haut fühlen, meine Flip-Flops spazieren führen und den ganzen Tag und die ganze Nacht am Wasser sein, wir bräuchten nicht viele Worte dafür, ich würde nur in seiner Nähe bleiben, ohne Forderungen und Ansprüche, und ihn das tun lassen, was er am liebsten tut, sich in der Natur verlieren und zu schauen, ob er überlebt. Das hat er gemeint … Das ist ihm durch den Kopf gegangen, als er das Foto mit dem Stier betrachtet hat.
Heulend starre ich auf die tiefblauen, gestochen scharfen Unterwasserfotos, die nun folgen, eines nach dem anderen, er muss sie selbst geschossen haben – vorbeigleitende Haie, nicht weiter als zehn, fünfzehn Meter von ihm entfernt, er schwimmt mit Haien! Da, Wale, ein junges Kalb mit seiner Mutter, und beim nächsten Schuss wieder Haie, dieses Mal eine ganze Gruppe und Falk offensichtlich mittendrin.
Er wird das erneut tun. Vielleicht nur für einen Urlaub, aber sobald er da ist, wird es keinen halben Tag dauern und er befindet sich unter Wasser und reiht sich in die Nahrungskette ein. Das gibt ihm seine Kicks. Es ist für ihn besser als jede Liebschaft, jedes Konzert, jedes Psychogespräch mit einer durchgeknallten Sängerin. Deshalb ist er auch der Ruhigste von uns allen, er braucht nichts von dem, was wir brauchen. Beziehungen, Ehen, Erfolgserlebnisse. Das alles hier oben auf dem Berg, eingeschlossen von Schnee und Eis und umzingelt von Idioten, ist für ihn nur ein riesengroßes Abenteuer. Es kann ihn nicht erschüttern.
Der Akku zeigt noch einen dünnen Balken, ich habe viel zu viel Zeit vertrödelt, doch ich klicke bereits den einzigen Videoclip der Seite an, Falk und ein paar andere Kerle in Tauchermontur an Bord eines Bootes mitten auf dem Meer. Sie ziehen mit vereinten Kräften einen kleineren Hai an Land, der sich flossenschlagend wehrt; Falk muss einen Moment lang mit ihm ringen, um ihn zu Boden drücken und chippen zu können, sein Körper gespannt vor Konzentration und Kraft in seinem schwarzen, engen Taucheranzug, dann lässt er den Hai zurück in die Freiheit und sieht ihm zufrieden hinterher. Die übrigen Fotos überfliege ich hastig, weil sie das Fernweh und die Sehnsucht in mir fast unerträglich werden lassen, und das letzte Bild ist auch das schönste des gesamten Albums. Falk vor einem prachtvollen Abendhimmel am Strand, im Halbprofil zum Betrachter und die Augen in die Ferne gerichtet, dorthin, wo der Himmel und das Meer sich begegnen – ein sonnentrunkener Halbgott in Crocs, seelisch unversehrt und damit unsterblich. Ich werde ihm niemals das Wasser reichen können.
Doch zugleich begreife ich mit einem schmerzhaften Ziehen in meinem Hals, dass ich zu jung bin, um weitermachen zu können wie bisher. Wo ist mein Lebenshunger geblieben, wo meine eigene Abenteuerlust? Sie können doch nicht für immer und ewig erstarrt sein! Wenn wir jetzt nach Hause fahren, wird sich nichts ändern. Ich werde in meine alte Routine verfallen und vergeblich nach einem neuen Traum suchen, der mich aufrecht hält und für den es sich lohnt, nachts schlafen zu gehen und morgens wieder aufzustehen. Ich brauche einen neuen Traum, wenigstens eine neue Erinnerung, mit der ich nicht alleingelassen werde! Diese Hütte im Schnee ist beileibe kein Paradies, doch sie ist immer noch besser als mein altes Leben, in dem ich ohne meinen Traum in trüben, immer gleichen Stumpfsinn verfallen werde, während das Netz um mich herum mit jedem Tag klebriger wird.
Ich will meinen Kopf auf meine angezogenen Knie
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