Linna singt
nur Falk und ich, sondern auch Maggie, Jules und Simon? Ich weiß es bis heute nicht. Haben sie nie darüber nachgedacht?
Ich schließe das Fenster, bevor der Song zu Ende ist und frenetischer Applaus aufbrandet. Ich habe ein letztes Mal ins Publikum gesehen; direkt vor mir waren drei Frauen aufgestanden, hatten die Hände wie zu einem ekstatischen Gebet erhoben und verbeugten sich mehrfach, Standing Ovations in ihrer demütigsten Form, sie huldigten mir. Mir! Selbst heute kann ich das nicht glauben. Es war doch so privat, so persönlich.
Aber Jules hat diese Aufnahmen aufgehoben und auf seinem Laptop abgespeichert; er sieht sie sich noch an. Die Kamera war fast nur auf mich, Simon und Falk gerichtet; Maggie verschwand im Hintergrund. Jules hat die Filme also nicht wegen Maggie auf seinem PC. Ist es denkbar, dass er sie sich als Inspiration für unser »Probenwochenende« in den Bergen angesehen hat? Allein wegen der Musik? Aber wozu braucht er dann alte Orchester- und Choraufnahmen? Nein, Jules hat Filme als Inspiration nicht nötig. Er muss eine andere Motivation dafür gehabt haben und vermutlich war ich es. Er sieht sie sich wegen mir an.
Plötzlich erscheint mir der Grund, weshalb ich mir seinen Laptop ins Zimmer geholt habe, belanglos zu sein, ja fast eine Bagatelle. Falks Leben. Was ist das schon im Vergleich zu dem, was möglicherweise in Jules schwelt? Trotzdem entweicht mir ein schweres Seufzen, als ich die Facebook-Seite öffne, angemeldet als Julian Winkler, um nach Falk zu suchen. Ich muss mich erst dicht an mein Fenster auf den kalten Boden knien, um online gehen zu können. Bisher habe ich mich nie mit Facebook auseinandergesetzt, mich interessiert all dieser Social-Network-Kram nicht. Aber ich finde mich rasch darin zurecht; nach drei weiteren Klicks bin ich in Jules’ Freundesliste und scrolle sie herunter, um nach Falk zu suchen. Ein Stich fährt in mein Herz, als er mir angezeigt wird.
Falk Lovenstein, Townsville. Townsville? England? USA? Südafrika? Südafrika, das könnte sein, das würde zu seinem Profilbild passen. Nur ein Teil seines Kopfes ist darauf zu sehen – er blickt beinahe skeptisch in die Kamera, als sei er darum gebeten worden, sich doch mal umzudrehen, bleibt aber freundlich, mit einem unverbindlichen, sympathischen Grinsen. Hinter ihm reiht sich in einer sanft gerundeten Bucht ein Segelboot an das nächste. Widerwillig klicke ich auf seinen Namen und sein Profil öffnet sich. Keine Pinnwandeinträge aus eigener Feder, doch beim Überfliegen der Seite sehe ich, dass es einen eigenen Menüpunkt mit Fotos gibt. Fünf Alben hat er abgespeichert. Die kann ich niemals alle ansehen. Zuerst sollte ich sowieso einen Blick auf die Infoseite seines Profils werfen. Mit pochendem Puls lese ich mir die knappen Daten durch, die Falk angegeben hat. Schule: Gymnasium am Kaiserdom, Speyer; interessiert an: Frauen; Beziehungsstatus: Single; Geschlecht: männlich. Nichts, was ich nicht schon wüsste. Aber wo liegt Townsville?
Mit finsterer Entschlossenheit klicke ich den Menüpunkt »Fotos« an. Ein Blick auf die Namen der Ordner genügt, um zu wissen, was ich längst hätte wissen müssen, wenn ich in Geografie ein bisschen besser aufgepasst hätte. Australia 2008, Australia 2009, Australia 2010, Oz 2011. Natürlich, Oz ist Australien. Und ein fünfter, letzter Ordner namens Germany, Winter 2011/2012. Er wirkt verloren inmitten all der Australienordner. Germany, das klingt nach gar nichts. Höchstens nach einer lästigen Zwischenetappe. Falk hat in Australien nicht Urlaub gemacht. Er hat dort gelebt. Deshalb sein verschliffenes Deutsch, die vielen englischen Begriffe, seine Anspielungen auf die deutsche Mentalität. Er fühlt sich uns gar nicht mehr zugehörig.
Aber er ist hier. Er ist hier! Ich könnte nachts seinen Atem hören, wenn die Wand zwischen uns nicht wäre. Er ist zurückgekommen, er hat es selbst gesagt. Wegen dieser Svenja Dingsbums – einer Frau. So groß kann die Liebe zum anderen Ende der Welt also nicht sein. Aber warum nennt er dann Townsville als seine Heimatstadt? Warum gibt er selbst dem deutschen Ordner einen englischen Namen?
Und was hat er eigentlich den ganzen Tag in Down Under getrieben? Willkürlich picke ich mir ein Album heraus, Australia 2009. Wie bei einem umgedrehten Memory reihen sich die Bilder in Reih und Glied vor mir auf. Ich öffne das erste, um das Album durchklicken zu können. Doch von Foto zu Foto fällt mir das Atmen schwerer und ich brauche
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