Linna singt
Aufnahmen von einer Frau, die sich duscht oder auf dem Klo sitzt, schlüpfrig. Oh Gott, er wird mich doch nicht dabei gefilmt haben?
Nein, ich klicke lieber erst »Chor« an, das klingt harmlos.
Mir kommen beinahe die Tränen, als das Video sich öffnet und zu laufen beginnt. Ich erkenne die Szene sofort wieder. Klein Linna und Klein Maggie im Schulchor, Mozart-Requiem, die ersten Takte. Wie damals habe ich binnen Sekunden eine Gänsehaut. Ich habe gelitten während der Proben, es war eine brutale Folter für meine Ohren, mir ständig all die falschen Töne um mich herum anhören zu müssen, aber ich habe das Requiem so sehr geliebt, dass ich zu allem bereit war, um es singen zu dürfen. Auch jetzt nehme ich jeden schrägen Ton wahr; eigentlich war es eine Schande, dieses Werk mit einem Schulchor zu singen, und trotzdem verstehe ich, warum wir es getan haben. Wäre ich Chorleiterin, würde ich es auch tun wollen.
Doch Mozart ist eine Herausforderung. Man glaubt, er sei einfach zu spielen und zu singen, weil man die Melodien kennt oder sie sofort ins Ohr gehen, aber seine Kompositionen sind tückisch. Gerade bei den harmlos klingenden Passagen sitzt der Teufel im Detail und sein Requiem ist selbst für die besten Chöre eine Leistungsprüfung par excellence. Immerhin wurden uns damals ein vernünftiges Orchester und Profisolisten zur Seite gestellt.
Ich wusste nicht, dass Jules uns gefilmt hat, aber es verwundert mich nicht, denn er war bei fast jedem schulischen Ereignis mit der Kamera unterwegs und hat sie für unseren Webauftritt festgehalten. Die Qualität ist schlecht, Maggie und ich sind nur unscharf zu erkennen, aber ich kann sehen, dass ich meine Augen geschlossen hielt, schon damals war das so. Ich kannte die Partitur sowieso auswendig und die Einsätze fühlte ich, ich musste nicht hinsehen, um ihnen zu folgen.
Etwas entspannter schließe ich den Clip und öffne »Orchester«. Ah. Bach. Die Pastorale aus dem Weihnachtsoratorium, dieses Mal Maggie an der Geige und ich an der Bratsche, wie alt waren wir, vierzehn? Ja, wir müssen vierzehn gewesen sein, ich erinnere mich. Es war das jährliche Schulkonzert in der Stadthalle kurz vor Weihnachten. Vororchester, Sinfonieorchester, Big Band, Blasorchester. Alles dirigiert und inszeniert von einem einzigen größenwahnsinnigen Lehrer, der sein Übergewicht durch eine fast diabolische Energie und durchdringenden Körpergeruch wettmachte. Mit jedem weiteren Stück stank er schlimmer. Meine Finger bewegen sich, sie suchen die Saiten, als ich die altvertrauten Klänge höre. Ich finde sie heute fast schöner als damals – Bach pusht nicht auf wie Mozart, nein, er hat mich immer besänftigt, wie ein symmetrisches, ausgewogenes Bild, auf dem nur wenige Dinge zu sehen sind, doch diese sind in sich vollendet und faszinieren durch ihre scharfen, perfekt gezeichneten Details.
Als die Kamera an mich heranzoomt, stelle ich erstaunt fest, dass ich gar nicht so burschikos und hässlich war, wie ich dachte. Jules hat mich gefilmt, in Nahaufnahme … Dabei war unsere Band damals Zukunftsmusik. Doch noch mehr verwundert mich, dass ich völlig anders wirke, als ich es im Gedächtnis hatte. Ja, mein Pony war zu kurz und schief dazu, aber ich sehe auf kuriose Weise niedlich aus mit meiner frechen Nase – die zu dieser Zeit noch stupsig war –, den schrägen Asia-Augen und meiner geraden Stirn. Ernsthaft und aufmerksam blicke ich in meine Noten, bevor meine Lider sich wieder senken. Ich hätte nicht hineinschauen müssen, ich tat es nur, damit unser Orchesterleiter nicht durchdrehte, weil er dachte, ich passe nicht auf. Dabei konnte man sich allein anhand seiner Geruchsschwaden durch die Noten leiten lassen. Da, jetzt schwenkt die Kamera weiter zu den anderen Orchestermitgliedern und passiert Maggie, dann Simon am Cello, pausbäckig und mit vollem Eifer bei der Sache, nun ein weiter Schwenk ins Publikum – ist das … das ist doch … oh verflucht, ja, es ist Falk. Ich quieke auf wie ein Schweinchen, halb Lachen, halb Seufzen. Er sitzt nicht in den Reihen, sondern steht im Gang nebendran, nicht einmal seine Jacke hat er ausgezogen. Vermutlich hat ihn die ganze Chose grenzenlos gelangweilt, aber höflichkeitshalber ist er immerhin vorbeigekommen, um Jules zuzusehen, der später noch in der Big Band die Trommelstöcke schwingen würde. Die beiden waren schon damals locker befreundet gewesen.
Gemächlich zoomt die Kamera an ihn heran. »Du warst so hübsch … so hübsch …«,
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