Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
Vom Netzwerk:
flüstere ich gerührt und fahre mit den Fingern über Falks Wangen, bevor Jules wieder auf Distanz geht und weiterschweift, durch das Publikum und erneut hoch zu uns auf die Bühne. Die Musik raubt mir jede Substanz, ich schließe die Augen, um mich ihr zu ergeben, wie damals bemüht, die falschen Töne auszublenden und mir stattdessen die richtigen vorzustellen. War Falk nur ansatzweise klar, wie anziehend er wirkte mit seinem Mike-Oldfield-Blick, seinem hinreißenden Profil und seinem weichen Mund? War es uns klar? Oder erkennt man das erst, wenn man erwachsen ist und eine klarere Sicht auf die Dinge hat? So, wie ich jetzt erst erkenne, dass ich gar nicht so bubenhaft war, wie ich angenommen habe? Nein, ich war sogar süß.
    Merkwürdigerweise sind Falk die Mädchen nicht hinterhergelaufen, obwohl er viel hübscher war als Jules, doch ob unter Mädchen oder unter Jungs: Falk war ein Einzelgänger. Wie hier bei unserem Konzert. Lieber außen vor anstatt mittendrin. Keine Rebellion, auch kein Protest, sondern höfliche Distanz.
    Ich schließe das Video mitten im Stück, um den Akku nicht zu sehr zu belasten, und klicke die mit »Linna« bezeichneten Dateien an, obwohl ich mir inzwischen denken kann, was mich erwartet – und meine Befürchtung bewahrheitet sich. Es sind Aufnahmen unseres allerletzten Konzertes, von jenem Abend, über den ich erst heute Nachmittag mit Falk gesprochen habe. Ich schlage die Hände vor mein Gesicht und will mir die Finger in die Ohren stopfen, als ich dabei zusehen muss, wie wir King of Sorrow von Sade anstimmen; ein Teil von mir will es sich anschauen und mit allen Sinnen darin eintauchen, ein anderer will weglaufen und nie wieder damit konfrontiert werden. Doch anstatt mich zu entscheiden, sitze ich hilflos da und gucke in fliegendem Wechsel hin und wieder weg, bis ich schließlich die Geistesgegenwart habe, wenigstens den Ton leiser zu stellen. Trotzdem bin ich noch eine Weile in mir selbst gefangen und muss mir dabei zuschauen, wie ich vor Hunderten von fremden Menschen Bestandteil der Musik werde und mich schließlich darin auflöse … Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen. Ich nahm nichts mehr anderes wahr außer den sanften, liebevoll melancholischen Klängen um mich herum und in mir selbst, auch nicht das Publikum; sogar Falk war ein Teil von mir geworden, so, als mache ich nicht die Musik, sondern bestehe aus ihr.
    Ich war die Musik.
    Danach der fließende Übergang zu No Ordinary Love, der eigentlich nicht geplant war. Wir hatten vorher noch darüber gestritten, ob es klug sei, den Ablauf genau wie bei Lovers Live zu machen, wir wollten schließlich eigenständig bleiben und kein fremdes Set abkupfern, auch wenn es sich nur um zwei Songs handelte. Die Gefahr war zu groß, damit beliebig zu werden, aber dann taten wir es doch, ganz spontan, und ich glaube, ich hätte gar nichts anderes singen können in diesem Moment. Jeder Musiker kennt diese Augenblicke, in denen es nur ein einziges Lied gibt, einen einzigen Text, ein Gefühl. Ich habe meine Chance genutzt, denke ich verwundert und traurig zugleich – jene winzige Chance, die in meinen Händen lag, mehr konnte ich nicht tun, für alles andere fehlte mir das Werkzeug. Ich bin niemand, der mit Worten und Taten für sein Glück kämpft. Ich kann es nur in der Musik.
    I gave you all the love I got, I gave you more than I could give … I gave
    you love … I gave you all that I have inside and you took my love … You took my love.
    Ob er es gespürt hat? Oder ob er das dachte, was er vorhin andeutete: dass ihm klar wurde, seine Schallgrenze erreicht zu haben, während ich versucht habe, ihn mitzunehmen? Nicht in eine andere Galaxie, sondern in mein Herz. Aber vielleicht ist das das Gleiche. Es war zu viel für ihn. Er konnte es nicht leisten, und wenn ich ehrlich bin, wäre auch ich daran gescheitert, früher oder später. Doch in diesem Moment sang ich um ihn. Es war mir nicht bewusst; ich sehe es erst jetzt mit aller Klarheit. Damals habe ich mich nur diesem ziehenden Schmerz in meinem Herzen überlassen und ihn in meine Stimme gelegt, um ihn besser ertragen zu können, doch mit jedem Ton wurde er intensiver und brennender, bis ich glaubte, auf meinem eigens errichteten Scheiterhaufen zu stehen und um mein Leben zu flehen. Dennoch sehe ich aus, als würde ich durch tiefes, kühles Wasser gleiten, so weich sind meine Bewegungen, ich schwimme in der Glut meiner Gefühle.
    Wie hätten wir das fortführen sollen? Nicht

Weitere Kostenlose Bücher