Linna singt
Putzzeug aus der Hütte, um den Reinigungsdienst zu übernehmen, doch als unsere Augen sich treffen, schaue ich sofort weg. Mein flüchtiger Blick genügt jedoch, um zu erkennen, dass er seit Stunden, vielleicht sogar seit Tagen weder gelacht noch geschlafen hat. Tobi lehnt blass im Schnee und nagt an seiner Lippe herum, die Augen entseelt ins Nirgendwo gerichtet.
»Beeil dich«, weist Simon Jules an, doch das muss er gar nicht; hier draußen haftet die Farbe weniger fest als oben auf dem Dachboden. Das E hat sich schon in einer zartrosa Wolke aufgelöst. Bittend dreht Simon sich zu Falk und mir herum. »Ich will nicht, dass Maggie sie sieht. Sagt ihr nichts davon. Sie hatte eine harte Nacht.«
Ich nicke stumm und fühle mich plötzlich von tausend Gewissensbissen geplagt. Ich weiß nicht genau, was Simon meint. Sie hatte eine harte Nacht, das kann alles bedeuten. Krach mit Jules, verzweifeltes Weinen bis zum Morgengrauen, quälende Schlaflosigkeit. Ein neuerlicher Neurodermitisschub, der sie dazu zwang, sich sämtliche Finger blutig zu kratzen. Vielleicht hat sie sogar bei Simon an die Tür geklopft, weil sie nicht mehr weiterwusste. Ja, es ist besser, sie in dem Glauben zu lassen, dass nichts mehr geschehen ist. Ihre Lethargie gestern Morgen hat mir mehr Sorgen bereitet, als wenn sie wie die Tage zuvor in Tränen ausgebrochen wäre.
»Wir können nicht länger tatenlos zusehen«, spricht Simon gefasst weiter. Eines höre ich unmissverständlich heraus: Er denkt nicht, dass ich es war. »Hier geht’s nicht mehr nur um Verleumdungen, das hier ist …« Er bricht ratlos ab, wie Maggie zwei Tage zuvor. Wie soll man dafür auch Worte finden? Keiner von uns unternimmt einen Versuch, seinen Satz zu Ende zu führen.
Nichts passt mehr zusammen; es ist, als falle die ganze Welt auseinander. Die strahlende Sonne und der azurblaue Himmel, die Falks und Simons Augen fast türkis aufleuchten lassen, und dazu die hässliche Botschaft an der Wand, Falks und meine Nacht und Maggies Elend, Jules’ beinahe gleichgültiges Putzen und mein Gedanke, dass er gerade seine eigenen Buchstaben wegwischt. Ob er sich überhaupt noch daran erinnert, sie geschrieben zu haben? Warum hat er sie geschrieben? Was sollen sie bezwecken?
Die gestrige Botschaft war ein harmloser Witz im Vergleich zu diesen Worten. Wie bei der Rachebotschaft klingen sie, als wüsste einer von uns mehr als alle anderen, als könne er in die Zukunft blicken – oder aber er baut vor. Damit ein Mord, der heute Nacht geschieht, wie ein Selbstmord aussieht. Es wäre nicht das erste Mal, dass so etwas geschieht. Aber ein Mord? Ist einer von uns dazu fähig? Und wäre es dann nicht geschickter, keine Botschaft voranzuschicken? Meine dritte Schlussfolgerung ist so abartig, dass ich sie sofort wieder verscheuchen möchte. Man kann Menschen auch in den Selbstmord treiben. Man muss sich nicht die Finger schmutzig machen, um sie aus dem Leben zu schaffen, es genügt ein Satz, ein Wort, und sie tun es, weil sie schon lange am Abgrund balancieren.
Ein dumpfer Schlag, dem ein lang gezogenes Grollen folgt, lässt Jules in der Bewegung erstarren und meine Grübeleien verblassen. Das Grollen scheint von tief unter dem Boden zu kommen, es fühlt sich fast an wie ein Erdbeben. Ehe ich sie suchen kann, hat Falks Hand mich schon gefunden. Ich muss mich zwingen, es nur beim Händchenhalten zu belassen und mich nicht in seinen Armen zu verstecken, als ich mit gerecktem Kopf und pochenden Ohren darauf warte, dass das Grollen aufhört. Ist es eine neue Lawine? Und wird sie dieses Mal unsere Hütte mit sich reißen? Das Donnern verebbt nur langsam, denn es wird von seinem eigenen Echo verfolgt. Direkt um uns herum bleibt es still, aber ich kann hören, wie sich weiter entfernt eine gewaltige Masse Schnee den Berg hinunterbewegt. Also doch eine Lawine? Aber warum hat es dann zu Beginn des Grollens geknallt? Es klang nicht wie der Gewehrschuss eines Jägers, sondern sonorer und mächtiger, fast wie ein Feuerwerk im Nebel.
»Sprengung«, beantwortet Falk meine Gedanken, und obwohl er leise spricht, zucken Simon und ich zusammen, so sehr haben wir uns auf die Geräusche von da draußen konzentriert. »Das war eine kontrollierte Lawinensprengung und …«
»Pscht«, unterbreche ich ihn mit erhobener Hand. Er gehorcht sofort. Nur Jules wischt mechanisch weiter, aber ich wage es nicht, ihn zu ermahnen, und versuche das Quietschen des Schwammes auszublenden. Ich brauche einige Sekunden, um meine
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