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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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dort bleiben möchte.
    »Musst du nicht. Okay, es gab mal eine Situation, da … Ich stand in unserem Badezimmer und hab die Schlaftabletten meiner Mutter gezählt. Ich war sechzehn und es war einer dieser Tage, die nicht enden wollten. Aber ich weiß bis heute nicht, warum ich sie gezählt habe. Ob ich wissen wollte, ob sie für sie selbst reichen würden oder – oder für mich.« Ich sehe mich sofort wieder vor mir, wie ich die Tabletten in meiner Hand zählte und dann zurück in ihren Behälter schüttete. Adumbran war es gewesen, den Namen habe ich nie vergessen. Aber auch an diesem Tag wollte ich nicht sterben. Ich wollte nur wissen, ob es die theoretische Möglichkeit dazu gibt – für sie und für mich –, um anschließend noch wachsamer zu sein als vorher. Es dauerte einige Jahre, bis ich kapierte, dass es ihr gar nicht darum ging zu sterben, sondern lediglich darum, vor ihren Problemen wegzulaufen. Dazu muss man nicht sterben; es reicht zu schlafen. »Ich habe nicht eine davon geschluckt. Es ist nicht meine Art, mich zu verpissen.«
    Er glaubt mir. Ein Lächeln stiehlt sich in seine tief liegenden Augen und lässt seinen Mund weicher werden, liebevoller. Dann nimmt er seine Hand von meiner Wange, gibt mir einen Klaps auf den Po und tritt mir voraus aus dem Wald heraus. Geblendet sehen wir uns um. Direkt vor unseren Füßen muss sich die Lawine den Hang hinunterbewegt haben, eine circa fünfzehn Meter breite Schneise der sanften Zerstörung hinterlassend. Viel hat sie nicht mit sich gerissen, ein paar Tannenzweige und Sträucher, mehr nicht.
    »Da drüben!« Falk deutet auf einen Mast, der hinter einem Hügel hervorragt, und im gleichen Moment nehme ich die Stimmen wahr: Männerstimmen und ein anspringendes Motorengeräusch, das mein Trommelfell erzittern lässt. Sofort setzen wir uns in Bewegung. Die Lawine hat so viel Schnee abgetragen, dass wir wesentlich schneller vorankommen als vorher. Die letzte Anhöhe ist mühsamer zu gehen, doch als wir den Hügel erklommen haben, breitet sich vor uns wie eine Belohnung für unsere Strapazen eine weitläufige Skipiste aus. Noch ist sie gesperrt, aber es wird mit Hochdruck daran gearbeitet, sie befahrbar zu machen. Die dunkel gekleideten Männer heben sich so scharf von der weißen, sanft gewellten Fläche ab, dass sie mir im ersten Moment wie ein Trugbild vorkommen. Sie wirken zu störend inmitten der Natur, um echt zu sein, als hätte sie jemand mit einem Kalligrafiepinsel in den Schnee gezeichnet.
    Doch schon hat einer von ihnen uns entdeckt und brüllt einen Befehl. Aufgeregt wedelt er mit den Armen, nicht in unsere Richtung, sondern nach oben, während sein Kollege bellend in ein Funkgerät spricht. Die nächste Sprengung … Falk und ich bleiben stehen und blicken suchend den Berg hinauf. Sie versuchen, die Sprengung zu stoppen – schaffen sie das überhaupt noch? Doch es bleibt still. Kein weiteres Grollen. Der Mann mit dem Funkgerät gibt uns winkend das Zeichen, näher zu kommen. Erst jetzt registriere ich, dass ich mich wie eine Ertrinkende an Falks Arm geklammert habe. Peinlich berührt lasse ich ihn los und stopfe meine Hände in die Jackentaschen.
    »Geh du. Ich warte hier.«
    Ich bleibe nicht aus Angst vor einer neuen Lawine auf der Kuppe des Hügels stehen und blicke Falk nach, wie er über die Piste stapft und schon auf halber Strecke mit den Arbeitern zu reden beginnt, kurze, männliche Wortwechsel, sie konzentrieren sich auf das Wesentliche, für Gefühle ist jetzt kein Platz. Nein, ich bleibe hier oben, weil plötzlich alles zu viel für mich ist. Die anderen Menschen, die Geschäftigkeit, mit der sie zugange sind, die fremden Stimmen, dabei zusehen zu müssen, wie Falk mit ihnen spricht und gestikulierend unseren Abtransport organisiert.
    Andere Menschen. Noch vor Tagen hätte ich mich zu Dankesgebeten hinreißen lassen, wenn ich ihnen begegnet wäre und sie mich hinunter ins Tal gebracht hätten. Jetzt erscheinen sie mir wie eine feindliche Armee; eine Bedrohung, keine Helfer in der Not. Ja, wir sind gerettet, ich sollte mich freuen, es wird genau das Richtige sein für Simon und Maggie und Tobias, obwohl er bestimmt nicht erpicht darauf ist, seinem Onkel zu begegnen. Aber sie alle werden froh sein, in ihr Leben zurückkehren zu können. Auch ich sehne mich nach einer heißen Dusche, meinem eigenen Bett und meinen Farben und Pinseln. Ich hätte nie gedacht, dass ich meine blöden Elfenbilder vermissen würde, aber ich kann kaum erwarten,

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