Linna singt
Zweifel zu zerstreuen. Ich höre einen Motor. Knatternd und unregelmäßig, mal heult er auf, dann stottert er wieder, doch er ist da. Zielsicher deute ich nach Osten. »Dort hinten sind Menschen. Ich höre einen Schlitten oder ein Pistenfahrzeug. Da ist jemand.«
Jules dreht sich nicht um. Simons Blick aber spricht Bände. Es sind Menschen, die uns hier rausholen könnten. Und es ist Falk und mir klar, dass wir nicht ihn durch den Schnee schicken können, um sie zu finden – nicht mit seiner verletzten Hand und nicht, wenn es seiner Schwester so schlecht geht, wie er gerade noch andeutete. Sie braucht ihn. Auch Tobi sollte hierbleiben. Er sieht so fertig aus, dass ich ihm nicht mal zutrauen würde, Brennholz aus dem Anbau zu holen. Jules anzusprechen, scheint jedem von uns ein unwägbares Risiko zu sein. Außerdem ist er gerade erst zum zweiten Wort vorgestoßen.
»Sollten wir …« Ich schlucke gegen das trockene Gefühl in meinem Hals an. »Sollten wir nicht erst versuchen, per Handy jemanden zu erreichen? Sie sind ja wieder aufgetaucht.«
»Habe ich schon versucht. Unsere Akkus sind leer. Alle.«
Ich verzichte darauf, Falk einen fragenden Blick zuzuwerfen, denn er hat sich bereits umgedreht und ist im Eingang der Hütte verschwunden. Nach wenigen Momenten kommt er zurück, um mir meine Jacke und meinen Schal zu reichen; seine Jacke hat er sich schon übergestreift. Ihn drängt es nach draußen, fort von der Hütte, und trotz der Furcht einflößenden Botschaft an der Wand und der Gefahren, in die wir uns nun begeben werden, zieht es auch mich weg von hier. Es ist die Sonne, die uns lockt, und das Bedürfnis, ohne die Gesellschaft der anderen unsere Nacht ausklingen zu lassen. Darüber reden möchte ich nicht, nur noch ein wenig Zeit mit ihm verbringen, bevor unsere Wege sich wieder trennen, und es rührt mich, dass er ähnlich empfindet. Ich hatte fest damit gerechnet, dass er mich hier draußen nicht mehr anschauen und erst recht nicht anrühren würde. Doch er weicht nicht von meiner Seite. Verstohlen taste ich meine hintere Hosentasche ab. Gut, ich habe mein Handy bei mir.
»Luna bleibt hier«, verkündet Falk und streift sich die Haare zurück, um sie zu seinem üblichen kurzen Zopf zu binden. Die Mütze stopft er sich in seine Jackentasche und auch ich ziehe meine nicht über meinen kurzen Schopf. Es ist spürbar wärmer geworden. Die Temperaturen bewegen sich zwar immer noch unter dem Gefrierpunkt, doch die Strahlen der Sonne haben Kraft. Sollte die oberste Schneeschicht antauen, würden wir das gleiche Problem bekommen wie bei unserem Aufstieg; unter Lunas Pfoten werden sich Klumpen bilden und uns Zeit rauben. Insgeheim bin ich froh, dass Falk sie vor neuerlichen Strapazen bewahren möchte. Dieser Verzicht verlängert ihr Leben vielleicht um einige Tage, wenn nicht sogar um Wochen.
Noch einmal deute ich gen Osten, um ihm zu zeigen, welche Richtung wir einschlagen müssen, und ehe ich Simon einen Abschiedsgruß zuwerfen kann, hat Falk mich bei der Hand genommen und verlässt den freigeschaufelten Weg, um jenen Pfad anzusteuern, über den wir hier heraufgelangt sind. Im hohen Schnee zu gehen, ist nach wie vor kraftraubend, hinzu kommen die diversen Schmerzen, die mich plagen, doch ich beiße die Zähne zusammen und bitte ihn nicht, langsamer zu machen. Diese Zeit haben wir nicht. Erst als wir den Weg wieder verlassen haben und in ein kleines Wäldchen eingebogen sind, bleibt Falk ohne Vorwarnung stehen, zieht mich an sich und gibt mir einen wilden, kratzigen Kuss.
»Guten Morgen«, brummt er in mein Haar, als er eine Hand unter meine Jacke wandern lässt und ich nur verwundert mit den Fingern meine Lippen berühre. Auf eine solche Rastpause war ich nicht vorbereitet. Sie gefällt mir außerordentlich gut. Dennoch bin ich geistesgegenwärtig genug, mein Handy aus der Tasche zu ziehen und in Höhe seiner Augen durch die Luft zu schwenken. Seufzend gibt er mich frei.
»Soll ich es versuchen?«
Falks Mundwinkel zucken belustigt. »Welche Nummer willst du denn wählen?«
Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. »Polizei? Feuerwehr? Feuerwehr, oder?«
Er hebt nur die Schultern und lässt sie wieder fallen.
Das Sonnenlicht ist selbst hier, im dichten Wald, noch so hell, dass ich das Display kaum erkennen kann. Mehr blind als sehend tippe ich meine PIN ein und warte, dass sie angenommen wird. Ich muss mich beeilen, der Akku zeigt nur noch einen Balken an und dieser blinkt bereits warnend. Hastig
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