Linna singt
Summen.
Nur mit Gewalt schaffe ich es, meine Arme wieder sinken zu lassen und die Augen zu öffnen. Falk sieht mich erschrocken an, er ist sogar einen Schritt von mir zurückgetreten.
»Du machst mir Angst«, gesteht er mit rauer Stimme. »Was ist los? Hast du … hast du etwas gespürt?«
»Falk, wir müssen den Verstand verloren haben!« Plötzlich ist der Spuk vorbei, ich rede normal und benehme mich normal. Ich kann selbst nicht sagen, welchen Kräften ich gerade ausgesetzt war. Doch ich täusche mich nicht in dem, was ich dabei erkannt habe. Wir waren leichtsinnig. »Wie konnten wir die anderen allein in der Hütte zurücklassen? Maggie zusammen mit Jules? Und Luna? Was ist, wenn er durchdreht? Simon ist verletzt, er kann sich nicht gegen ihn wehren, und Tobias traue ich höchstens zu, dass er wegläuft. Du bist der Einzige von uns, der es mit ihm aufnehmen kann, ich würde es vielleicht auch noch schaffen, aber Maggie … sie … Wir müssen zurück, so schnell wie möglich!«
Ich drehe mich von ihm weg und beginne zu laufen, in der Hoffnung, dass er mir folgt. Mir ist vollkommen bewusst, dass ich mich anhöre, als sei ich in einen Film mit schlechtem Drehbuch gerutscht. Doch die Stimmen in meiner Brust und meinem Kopf rufen immer noch. Mag sein, dass meine Theorien irrer sind, als Jules in Wahrheit ist, aber wir hätten Maggie nicht mit ihm allein lassen dürfen. Morgen von der Pistenwache abholen lassen – das ist lachhaft. Morgen! So viele Stunden noch! Morgen kann alles zu spät sein.
Falk ist dicht hinter mir und macht keine Anstalten, mich in meinem schnellen Lauf zu stoppen, obwohl wir bei fast jedem zweiten Schritt ins Stolpern geraten. Überall unter dem Schnee verbergen sich vereiste Wurzeln. Doch unkommentiert will er meinen Ausbruch nicht stehen lassen. Mit zwei großen Sprüngen schließt er zu mir auf.
»Linna, manchmal muss man Risiken eingehen, um etwas Gutes zu bewirken, und es ist kein hohes Risiko.«
»Nein? Findest du? Keiner von uns weiß, wie Jules tickt. Warum bist du nicht alleine losgezogen? Ich bin nicht so wehrlos wie Maggie!«
Im Gehen streicht Falk über meinen Nacken. »Weil du mir die Liebste von allen bist. Ich musste dich mitnehmen. Und wenn es Jules auf jemanden von uns abgesehen hat, dann auf dich. Ich wollte dich nicht mit ihm zurücklassen.«
Weil du mir die Liebste von allen bist. Ich möchte stehen bleiben und ihn küssen, mich wenigstens freuen, doch das Singen in meinem Kopf treibt mich unerbittlich vorwärts.
»Wir wissen nicht, ob Jules es auf mich abgesehen hat. Wir denken das nur. Wir wissen gar nichts! Wir wissen nicht, ob die Botschaft eintrifft und wie sie eintrifft«, rufe ich atemlos. Ich laufe nun so schnell, dass der Schweiß in Strömen über meinen Rücken rinnt.
»Bisher hat sich doch gar nichts davon als wahr erwiesen.«
»Na, das Erste schon«, gebe ich garstig zurück.
»Aber sonst nichts, oder?«
Ich muss aufhören, ihm zu antworten, sonst fange ich an zu würgen. Wichtiger ist es, dass ich laufen kann. Schweigend haste ich weiter durch den Schnee, während Falk mir dicht auf den Fersen bleibt. Die Trefferquote der Behauptungen war wahrlich nicht hoch, doch die prophezeite Rache könnte genau in diesem Moment geübt werden. Dass die gestrige Botschaft in ihrer Harmlosigkeit herausstach, kann pure Absicht gewesen sein, denn umso brutaler wirkt die heutige Schmiererei. Mit so etwas hätte niemand von uns gerechnet.
Der Weg zurück zur Hütte kommt mir doppelt so lang vor wie die Strecke zur Piste, obwohl wir stur unseren eigenen Fußabdrücken folgen. Meine Bedenken zerstreuen sich nicht und erst recht nicht dieses untrügliche Gefühl, dass etwas geschehen wird, was alles andere in den Schatten stellt, wenn wir es nicht in allerletzter Sekunde verhindern. Oder ist es bereits zu spät? Ist es das, was ich fühle – dass eine Seele gestorben ist?
Die Hütte taucht dunkel und kantig wie eine trotzende Festung über uns auf, als wir aus dem Wald treten. Kein Hund stürmt uns bellend entgegen. Schon von Weitem sehen wir, dass die Botschaft restlos entfernt wurde. Doch niemand ruft uns ein Hallo zu oder tritt aus der Tür, um uns zu empfangen, auch die Fenster öffnen sich nicht. Es bleibt totenstill.
»Schau du in der Hütte nach Maggie und Tobi und Simon«, stoße ich keuchend hervor. Die Stiche in meinen Flanken zwingen mich dazu, mich nach vorne zu beugen. »Ich sehe im Anbau nach. Schnell!«
Falk will mich festhalten, doch seine Hand
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