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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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bleiben, und halte mit der rechten das Seil fest umklammert, damit er es mir nicht entziehen kann.
    Doch als ich wieder zu mir komme und mich stöhnend aufrichte, sitzt er immer noch so vor mir, wie ich ihn gefunden habe, die Ellenbogen auf den Knien, den Kopf gesenkt, die Lider niedergeschlagen. Nur das Seil liegt nicht mehr in seinen Händen. Es ist eisig kalt und widerwärtig schmutzig hier unten inmitten des Hühnerdrecks und der verklebten Federn, doch ich bringe es nicht fertig aufzustehen. Nicht meine Schwäche hält mich davon ab, sondern der Wunsch, auf keinen Fall richtend zu wirken, wenn ich ihn anspreche. Noch suche ich vergeblich nach Worten. Was sagt man in einer solchen Situation? Ich will mich nicht abgedroschener Floskeln bedienen, die niemandem helfen, aber ich will ihn auch nicht zu irgendwelchen Kurzschlusshandlungen provozieren. Doch wenn Jules sich das Leben nehmen wollte, muss er hinter all den fiesen Taten stecken.
    »Ich hab nur darüber nachgedacht.« Seine Stimme klingt so mutlos und getränkt von Selbsthass, dass ich meine Finger noch fester um das Seil presse, um nicht der Trauer um uns herum zu erliegen. Das war es, was ich in der Hütte gefühlt habe, wenn ich nachts wach lag. Trauer. Keine Trauer um einen anderen Menschen, sondern Trauer um sich selbst. Es ist nicht Mina, die ihn um den Verstand bringt. Sondern das, was aus seinem Herzen kommt. Minas Tod hat ihn nur noch einsamer gemacht.
    »Jules …« Ich lasse meine Augen flüchtig über das Seil gleiten und schaue dann hoch an die Decke. Es wäre ihm nicht gelungen. Das Seil ist zu dünn und faserig, der Knoten schlampig und der Deckenbalken zu morsch, um seinem Gewicht standhalten zu können. Aber stranguliert hätte er sich, im Ernstfall bis zur Bewusstlosigkeit, und womöglich hätten wir ihn zu spät gefunden, sodass er bleibende Schäden davongetragen hätte. »Warum? Jules, warum machst du all diese Sachen? Was ist los mit dir? Ich kenne dich so nicht.«
    Endlich hebt er den Kopf, um mich anzublicken. Seine Augen sind stumpf, selbst Tränen haben sie keine mehr. Ein Elend zeichnet sein Gesicht, wie ich es noch bei keinem anderen Menschen gesehen habe. Es muss ihn schon seit Jahren durch sein Leben begleiten. Er hat es nur vertuscht mit seiner Coolness und seinem »Mann von Welt« -Charisma.
    »Welche Sachen, Linna? Ich mache doch gar nichts. Das ist es ja gerade … Ich mache nichts.«
    »Na, zum Beispiel mir die Haare abschneiden. Warum? Warum sagst du mir nicht einfach, dass …?« Wieso kann ich meinen Satz nicht vollenden? Es gelingt mir nicht, nicht beim ersten und auch nicht beim zweiten Versuch. Einen dritten spare ich mir, denn Jules’ Blick ist so verständnislos unter all seinem Kummer, dass ich mir plötzlich vorkomme wie der letzte Idiot. War es doch Maggie?
    »Dass was? Du wolltest doch, dass ich dir die Haare schneide, du hast mich darum gebeten. Das hast du, Linna!«
    »Ja, habe ich.« Ich will tief Luft holen, bereue es aber im gleichen Augenblick. Hier stinkt es immer noch bestialisch. »Jules, merkst du gar nicht, dass wir mitten im Dreck sitzen?«
    »Passt doch«, entgegnet er so bitter, dass ich trotz meines Dauerlaufs zu frieren beginne. »Ein Stück Aas gehört in den Dreck. Ich bin kein Mann, ich bin ein Nichts. Ich hab nicht für fünf Cent Eier in der Hose.«
    »Ich weiß nicht, wovon du redest. Und das mit den Haaren – ich hab mir meinen Zopf nicht abgeschnitten. Ich dachte erst, es sei Maggie gewesen, aber das traue ich ihr nicht zu, also musst du es getan haben. Du bist in mein Zimmer gekommen und hast mir die Haare abgesäbelt, während ich geschlafen habe, weil …«
    »Was habe ich?« Sein Entsetzen wirkt echt und lässt mich sofort wieder verstummen. »Geht’s noch?«
    »… weil du mich … nein«, starte ich einen neuen zaghaften Versuch und das Gefühl, ein Idiot zu sein, wird immer stärker. »Aber deine Botschaften an der Wand und …«
    »Ich hab die Botschaft doch gar nicht zu Ende geschrieben! Nicht mal dazu habe ich den Mut!« Seine Stimme überschlägt sich, sie ist völlig ruiniert vom vielen Weinen. »Ich bin der letzte Feigling …«
    Okay. Einen Punkt kann ich abhaken auf meiner langen Liste unbeantworteter Fragen. Es war Jules, den wir auf dem Dachboden belauscht haben.
    »Was wolltest du denn schreiben?«
    »Na, die Wahrheit! Die Wahrheit wollte ich schreiben und dann … dann …« Nun fängt er doch wieder an zu schluchzen, aber es kommen keine Tränen. Mit beiden Fäusten

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