Linna singt
schlägt er sich zornentbrannt gegen die Stirn, wie ich in meinen schlimmsten Momenten. Es tun also auch andere Menschen, stelle ich merkwürdig distanziert fest, greife aber sofort nach vorne, um seine Fäuste wegzunehmen und an meine Brust zu drücken, in der Hoffnung, dass er sich beruhigt, wenn er meinen Herzschlag spürt. Doch er entzieht sie mir wieder. Sein Abscheu vor sich selbst ist zu groß, um Berührungen zuzulassen. »Ich konnte es nicht. Ich kann ihnen das nicht antun. Maggie nicht und meinen Eltern nicht … es geht nicht …«
»Aber reicht es nicht, wenn du es mir sagst? Du musst es Maggie gar nicht sagen, eigentlich muss es niemand erfahren. Du trennst dich von ihr und nennst ihr einen anderen Grund, etwas, womit sie leben kann, und dann …«
»Du weißt es also? Du weißt es?« Er schwankt zwischen Hoffnung und blanker Angst. Seine Füße scharren unruhig über den Boden, als wolle er aufstehen und zur Tür rennen, doch nach den ersten Schrecksekunden bleibt er sitzen und fährt sich mit bebenden Händen durch die wirren Haare. »Woher … nein …«
»Falk ist darauf gekommen, nicht ich. Er …«
»Oh nein. Nein!« Jules schüttelt den Kopf und wiederholt sein Nein immer wieder und ich bekomme eine vage Ahnung davon, wie oft er es sich schon gesagt hat. Jeden Tag, jede Stunde. Es war sein stilles Mantra. Nein zu Linna.
»Es ist doch nicht schlimm. Ich wundere mich zwar darüber, weil ich dachte, ich hätte es merken müssen, aber …«
»Nicht schlimm? Es macht alles kaputt, alles! Es geht nicht, ich kann es nicht sagen und auch nicht dazu stehen, es geht nicht, verstehst du?«
»Nein. Nein, ich verstehe gar nichts mehr. Okay, du hast deinen Stolz, aber, mein Gott, du liebst mich, ist das denn solch ein Verbrechen? Bin ich so grässlich, dass man sich deshalb dermaßen schämen muss?«
Erneut sieht Jules zu mir auf und schon wieder ist er derjenige, der an meinem Verstand zweifelt. Wir haben die Rollen getauscht. »Nicht dich, Linna. Nicht dich! Ich liebe nicht dich. Ich …«
Nicht mich. Doch auch nicht Maggie. Jules liebt nicht mich und nicht Maggie, aber er liebt jemanden und es kann alles zerstören – nicht nur alles, sondern auch die Menschen in seinem Leben. Nun beginnen die Lawinen in meinem Kopf zu rollen, eine nach der anderen, und hinterlassen ein klares, deutliches Bild. Nein, es ist ein Wort – ein Name, der für Jules und mich die Welt bedeutet.
»Falk«, spreche ich aus, was er nicht zu denken wagt, geschweige denn zu sagen. »Du liebst Falk! Das ist es, du liebst Falk!«
»Ja«, flüstert er, und als habe sein Bekenntnis die Schleusen geöffnet, beginnen seine Tränen in wahren Sturzbächen zu fließen. Binnen Sekunden glänzt sein Gesicht vor Nässe. »Ich liebe Falk.«
Ich brauche nicht eine Sekunde, um ihm zu glauben. Ja, so ist es. Jules liebt Falk.
»Willkommen in meiner Welt«, entgegne ich seufzend und streiche ihm über die Wangen, während in meinem Kopf langsam Ruhe einkehrt. »Wir haben keine Chance, beide nicht, das weißt du, oder?«
»Linna, hast du nicht verstanden, was ich dir gesagt habe? Ich bin schwul, ich bin eine Tunte, eine schwule Sau!«, schreit Jules und drückt meine Hand weg.
»Doch, das habe ich«, erwidere ich reserviert. In welches Jahrhundert hat es Jules denn verschlagen? »Du liebst Männer. Na und? Ich bin froh drum. Ist mir lieber, als wenn du mich liebst und deshalb mit der Axt durch die Hütte rennst und uns abschlachtest. Jules, ich hatte solche Angst vor dir! Ich dachte die ganze Zeit, du meinst mich!«
Und jetzt ergibt alles einen Sinn. Ich verstehe es noch nicht in seiner Gänze, aber ich bin überzeugt, dass es nach und nach all seine befremdlichen Verhaltensweisen erklären kann. Dass er Falk liebt, kann ich ihm sowieso nicht verübeln. Und er tut es schon lange, schon bevor es Linna singt gab. Deshalb der Zoom auf Falks Gesicht in den Videos, ach, nicht nur das. Er hat sie wegen Falk abgespeichert und den Ordner mit »Linna« betitelt, um sich selbst zu täuschen, doch eigentlich hätte der Ordner »Falk« heißen müssen. Seinetwegen ist er nach der Bandtrennung ausgerastet. Denn an diesem Abend hatte Falk Maggie gesagt, dass er seinen Flug gebucht hat und nicht zurückkommen wird. Dass er nach Australien auswandert, ans andere Ende der Welt. Vielleicht war es gar nicht allein meine Panik, die mich so aus der Fassung gebracht hat. Vielleicht habe ich Jules’ Panik zusammen mit meiner geschultert, weil ich es gewohnt
Weitere Kostenlose Bücher