Linna singt
packt mich zu spät und zu flüchtig, mit einer schwungvollen Bewegung meines Armes reiße ich mich los und trabe dem Anbau entgegen. Falls die Axt weg ist, weiß ich, wer sie hat, und kann nur hoffen, dass er noch nichts mit ihr angerichtet hat. Falls sie da ist, werde ich sie mir schnappen und – dem Himmel sei Dank, sie ist da. Sie steckt im Holzklotz vor dem Anbau, dort, wo sie hingehört. Mit einem unterdrückten Schrei löse ich sie heraus und lege sie über meine rechte Schulter.
Und nun? Ich sollte zurück zu Falk gehen, in die Hütte, doch meine Augen fressen sich immer wieder an dem Schuppen unter den Tannen fest, dem verdreckten Todeslazarett unserer Hühner. Meine Füße wollen meinen Augen folgen. Ich gehorche dem fordernden Kribbeln in meinen Sohlen und mache einen zögerlichen Schritt nach vorne, dem Schuppen entgegen. Das ist verkehrt, versuche ich mir einzutrichtern, die falsche Richtung, du musst Falk in der Hütte zu Hilfe kommen! Wer weiß, welches Blutbad er dort drinnen vorgefunden hat. Doch ich habe bereits den nächsten Schritt von der Hütte weg und dem Schuppen entgegen gemacht, der dritte fällt mir noch leichter, bis ich mit großen Sprüngen von einem unserer gefrorenen Fußabdrücke in den nächsten hüpfe, um schneller voranzukommen. Ich drehe mich nicht mehr um. Nach mir die Sintflut.
Warum tue ich das, zum Henker? Weil ich mich in Sicherheit bringen will, da ich in der Hütte nur den sicheren Tod finden werde und nichts sonst? Bin ich so feige? Oder so klug?
Ich kann das nicht tun. Nein. Ich kann mich nicht im Schuppen verstecken, während die anderen in ihrem eigenen Blut liegen oder von Jules unter vorgehaltener Waffe in Schach gehalten werden. Das, was mich fort von der Hütte treibt, ist keine innere Stimme und auch keine intuitive Weisheit, es ist der pure Überlebenstrieb – ein Trieb, den echte Helden ausschalten können. Auch ich muss ihn jetzt ignorieren, denn was nützt mir mein Leben, wenn all meine Freunde tot sind?
Ich will gerade kehrtmachen, als Falks Stimme durch die klare Luft schallt. Geduckt halte ich inne.
»Hey, Linna! Alles okay! Die schlafen!«
Sie schlafen oder sie sind tot? Das ist keine Ausgeburt meiner überdrehten Fantasie, es gibt Amokläufer, die so etwas machen. Sie betäuben ihre Opfer, legen sie ins Bett und bringen sie um, mit Gift, Medikamenten oder einem sauberen Schuss ins Herz. Ganze Familien sind auf diese Weise ausgelöscht worden. »Leblos im Bett aufgefunden«, liest man dann in der Zeitung. »Todesursache noch unklar.«
Und Jules?, will ich zurückschreien, aber aus meiner Kehle dringt nur ein gebrochenes Wimmern. Hat Falk auch Jules gesehen? Weiß er, wo er ist? Doch ich versuche nicht, ein weiteres Mal zu rufen, das würde Jules nur auf mich aufmerksam machen und ich habe den Schuppen schon fast erreicht. Die letzten Meter torkele ich mehr, als dass ich laufe, und werfe mich mit dem Ellenbogen fest gegen die Tür, um sie aufzudrücken. Krachend schlägt die Axt gegen ihren Rahmen und droht von meiner Schulter zu rutschen, doch ich schaffe es, mich auszubalancieren und sie in meine Hände gleiten zu lassen, bevor ich eintrete und die Tür hinter mir zukicke. Jetzt muss Falk es verstanden haben. Er muss! Er …
»Nicht, Jules! Nicht, ich habe eine – ich bin bewaffnet! Bleib weg von mir, ich warne dich!«
Ich bin direkt in die Falle gerannt. Oh Gott, wie konnte ich nur so blöd sein? Nicht der Mörder hat mich heimgesucht, ich habe ihn heimgesucht! Einfacher hätte ich es ihm nicht machen können. Drohend erhebe ich die Axt über meinen Kopf, obwohl meine zitternden Arme sie kaum mehr halten können, als ich nur stückweise zu begreifen beginne, was ich hier eigentlich sehe.
Das Wort Mord passt nicht zu diesem Bild. Das Wort Mordgedanken schon eher. Aber sie beziehen sich nicht auf mich. Sondern auf ihn selbst. Ich lasse die Axt fallen und stürze mit drei wankenden Schritten auf ihn zu, um das Seil aus seinen Händen zu reißen. Er leistet mir keinerlei Widerstand, sodass ich von meiner eigenen Wucht nach hinten geschleudert werde und unsanft auf den Hinterkopf falle.
»Das tust du nicht! Niemals!«
Meine Stimme ist nur noch zu einem schwachen Fauchen in der Lage. Sternchen tanzen vor meinen Augen und verdichten sich zu schwarzen Flecken, ja, das ist Ironie des Schicksals, ich werde dann ohnmächtig, wenn ich ernsthaft gebraucht werde, das erste Mal in meinem Leben. Mit der linken Hand schlage ich mir auf die Wange, um wach zu
Weitere Kostenlose Bücher