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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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eines zu malen.
    Trotzdem bedeutet unsere Rettung, Falk endgültig ziehen zu lassen. Es tut weh genug, es in Gedanken zu tun. Ihn jetzt mit den Männern reden zu sehen, ist unerträglich. Ihre Stimmen sind so laut und ungewohnt, ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie es sein wird, mich wieder unter andere Menschen zu begeben, fremde Menschen, sie ansehen und anhören zu müssen. Wie ein kleines Kind presse ich die Hände auf meine Ohren, um ihre Gegenwart zu vergessen, und merke an dem Schwindel in meinem Kopf, dass ich minutenlang nicht richtig geatmet habe. Wenn ich jetzt zu schnell Luft hole, fange ich an zu hyperventilieren und ich will nicht hechelnd im Schnee liegen, wenn Falk zurückkommt, um mich zu holen. Denn wir werden die Ersten sein, die ins Tal gebracht werden. Sie werden uns sofort mitnehmen. Kontrolliert lasse ich die kalte Winterluft in meine Lungen strömen, durch die Nase, nicht durch den Mund, denn … aber was ist das? Das ist doch …
    »Schnee«, flüstere ich anbetungsvoll und spreize meine Finger, als könne ich sämtliche Moleküle, die mich diesen köstlichen Duft erahnen lassen, aus der Luft klauben. Ich rieche den Schnee! Ja, ich rieche ihn, und auch das Harz der Bäume, bis hierher rieche ich es, den Schnee und die Bäume und das Sonnenlicht auf dem dunklen Stoff meiner Softshelljacke.
    Als Falk zu mir zurückkommt, strahle ich noch immer wie ein Honigkuchenpferd, die Augen zum Himmel gewandt und die Nase kraus vor Entzücken.
    »Na, da freut sich aber jemand«, brummt er. Ich reagiere nicht. Lass mich noch ein bisschen schnuppern, denke ich. Unten im Tal rieche ich wahrscheinlich wieder gar nichts mehr vor lauter Benzin und Abgasen. »Musst es aber noch ein bisschen mit mir aushalten. Sie holen uns morgen früh.«
    »Morgen früh?« Ich sollte dankbar dafür sein, aber zu meiner Verblüffung verfliegt selbst das kurze Glück über den unverhofften Duft von Schnee. »Warum erst morgen, es wird sich doch heute Nacht …« Nein, diesen Satz spreche ich lieber nicht aus. Nicht weil er sich dumm anhören könnte, sondern aus purem Aberglauben.
    »Weil sie erst noch Sprengungen durchführen müssen, bevor sie uns gefahrlos nach unten bringen können. Und wir kommen ja klar, oder? Mozzie?«
    »Wir kommen klar? Ehrlich? Heute Nacht – heute Nacht … Hast du nicht gelesen, was an der Wand stand?« Ich kann nicht glauben, wie ruhig Falk bleibt. Oder übertreibe ich? Ja, ich übertreibe wohl, ich bin restlos überreizt. Die fremden Männer, der Geruch des Schnees und der Tannen, die Stimmen der anderen Menschen – es überfordert mich. Allein unsere gemeinsame Nacht sprengt meinen Kopf. Ich kann nichts mehr filtern. »Sorry«, murmele ich zerknirscht. »Natürlich reicht es auch morgen noch.«
    Wir haben Brennholz, wir haben Essen, wir haben ein Dach über dem Kopf. Simon ist auf den Beinen. Er fiebert nicht. Alles gut, bete ich mir vor, während wir uns auf den Rückweg machen. Die Sonne scheint sogar, es wird wärmer. Das lang ersehnte Tauwetter. Ich kann eventuell noch eine Nacht mit Falk verbringen, auch wenn mir diese Vorstellung im Moment körperliche Schmerzen bereitet. Einen Nachmittag und einen Abend und eine Nacht. So viel Zeit. Warum erleichtert mich dieser Gedanke nicht? Wieso herrscht diese erdrückende Fülle in meinem Kopf, als redeten tausend Stimmen auf mich ein?
    Dieses Mal bin ich es, die im Wäldchen stehen bleibt.
    »Was ist denn, kannst du nicht …«
    »Still!«, herrsche ich Falk an und lege meine Fingerspitzen an die Schläfen, um die Augen zu schließen und in meinen Kopf hineinzuhorchen. Erst als ich meine Arme weit ausbreite, das Gesicht nach oben wende und tief ein- und ausatme, finde ich die grauenvolle Gewissheit, mich nicht geirrt zu haben. Es ist kein Ohrwurm. Es kann kein Ohrwurm sein, denn ich habe diese Musik heute nicht gehört. Nicht heute und auch nicht gestern. Es ist eine Prophezeiung. Es sind jene Gesänge, die mich begleiteten, als ich den Berg hinunterrannte und die Lawine kam. Nein, ich denke nicht, dass wir jetzt verschüttet werden. Ich denke, dass etwas anderes Furchtbares geschehen wird. Ach, mit Denken hat das nichts mehr zu tun, ich weiß, dass etwas passieren wird – oder es ist schon passiert und wir können uns nur noch den Folgen stellen. Es hat mit dem Tod zu tun. Die Stimmen werden so laut und intensiv, dass ich in ihre Gesänge einfallen möchte, um sie zu vertreiben, doch aus meiner Kehle kommt lediglich ein heiseres, tiefes

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