Linna singt
fragt mich, warum ich sie nach oben bitte, niemand widersetzt sich oder will sich davor drücken, so krank und zerstört wir uns auch fühlen.
Sie werden alle kommen.
Linna singt.
RETURN TO THE ORIGIN
Jules erscheint als Letzter auf dem Dachboden und setzt sich sofort mit hängenden Schultern und in sich gekehrtem Blick hinter das Schlagzeug, als könne es ihn wie eine Burg vor dem, was jetzt geschieht, schützen. Ich bin noch damit beschäftigt, etwas Helligkeit in das dunkle, große Zimmer zu zaubern und eine Kerze nach der anderen anzuzünden. Ich möchte keine romantische Stimmung schaffen oder über das hinwegtäuschen, was zwischen uns geschehen ist, aber wir brauchen diese flackernden Flämmchen. Jede einzelne kommt mir wie ein Lebensfunke vor, der uns davor bewahrt, uns der Traurigkeit zu ergeben, die sich um uns herum aufgetürmt hat, wie der Sturm den Schnee auftürmte, bevor der Schrecken seinen Lauf nahm.
Man sieht dem Dachboden nicht an, was in den vergangenen acht Tagen in dieser Hütte passiert ist. Ich habe gründlich aufgeräumt. Der Flipchart steht wieder da, wo er stehen sollte, ich habe die Nussschalen vom Boden aufgelesen und die Felle fächerförmig verteilt wie im Inneren einer Jurte. Keine Glassplitter können uns mehr verletzen, die CDs sind ordentlich gestapelt, die Instrumente so angeordnet, dass sie an unseren früheren Probenraum in Jules’ Keller erinnern. Falk, Jules, Maggie und Simon werden mich im Halbkreis umschließen. Ich bin ihre Mitte.
Trotzdem fällt es mir schwer, sie anzusehen, als ich mich im Schneidersitz auf einem der Felle niederlasse. Ich muss nicht um das Wort bitten, denn niemand hat gewagt, etwas zu sagen oder sich gar zu unterhalten. Alle warten auf mich. Selbst Falk ist seit dem Baden so still geblieben, wie ich ihn hier oben bislang nicht erlebt habe.
Umso wichtiger ist es jetzt, dass ich spreche. Bedächtig hebe ich den Kopf und richte meine Augen auf sie; nun muss ich sie ansehen und das Wissen darüber, dass ich nur reden und nicht singen werde, kann meine Nervosität kaum dämpfen. Doch niemand erwidert meinen Blick. Sie sind bereit, mir zuzuhören, aber sie schauen in sich hinein, auf all die dunklen Geheimnisse, die uns das Atmen erschweren.
»Ich weiß, ihr denkt, dass ich die Botschaften an die Wand geschrieben habe. Eine habe ich schon aufgelöst. Die zweite sollte nur Angst schüren. Die dritte aber … die dritte ist wahr.«
Mit einem Mal heben sich die Blicke und sie alle starren mich an – Simon und Falk fragend und rätselnd, Maggie auf fast überhebliche Weise wissend und in Jules’ grünen Augen sehe ich nichts als Angst, doch er lässt meine kleine Kunstpause verstreichen, ohne zu protestieren oder davonzulaufen. Sogar Luna, die Falk vor der Tür postiert hat, damit sie rechtzeitig Laut geben kann, falls Tobi sich nähert, äugt mich aufmerksam an. Aber ich bin mir meiner Sache sicher. Bereits mit den ersten Worten bin ich ruhiger geworden. Mein Rücken ist kerzengerade, meine Hände liegen warm in meinem Schoß, mein Atem fließt gleichmäßig.
»Ich werde jetzt die Rolle der Verräterin übernehmen. Und einen von uns outen.«
Noch immer macht Jules keine Anstalten, mir ins Wort zu fallen. Ich beschließe, dass ich ihm genügend Zeit gegeben habe, selbst das Ruder in die Hand zu nehmen, und spreche weiter.
»Was an der Wand über der Spüle stand, stimmt. Einer von uns ist schwul. Und es ist Jules. Natürlich Jules, wer sonst? Ja, es ist Jules, unser Mr Hollywood. Jules ist schwul.«
Ich spüre, wie Jules den Atem anhält. Auch die anderen sind mucksmäuschenstill. Sie wissen, dass ich keinen Scherz gemacht habe, aber trotzdem schwankt die Stimmung einen Moment lang zwischen Erleichterung und neuen Anfeindungen.
»Oh Mann, Linna«, murmelt Maggie schließlich mit leisem Vorwurf in der Stimme. »Du immer.«
Ja, ich immer. »Sie weiß es, Jules«, erlöse ich ihn, bevor er sich doch noch entschließt, nach unten zu flüchten. Er zuckt, als habe ihn ein Peitschenhieb getroffen, bleibt aber hinter seinem Schlagzeug sitzen und hält die Sticks so fest umklammert, dass seine Fingerknöchel weiß hervortreten. Dennoch strahlt er mehr inneren Frieden aus als all die Tage zuvor.
»Wie – aber … wieso …«, stottert Falk und kratzt sich gut hörbar am Hinterkopf. »Wieso lässt du es dann an Linna aus, Jules? Warum bist du ihr gegenüber so aggressiv? Was kann sie denn dafür?«
Oje. Diese Wendung des Gesprächs wollte ich vermeiden
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