Linna singt
er schläft, doch das Chaos in seinem Zimmer lenkt mich für einen Moment von ihm ab. Keine Teelichter, keine karierten Kissen und Schalen mit Lebkuchen, sondern die pure Verwüstung eines Menschen, der den Überblick verloren hat. Am Fußende des Bettes liegen schmutzige Socken und benutzte Unterhosen, der Boden ist unter den kreuz und quer verstreuten Klamotten, Zeitschriften und verrotzten Taschentüchern kaum mehr zu erkennen. In zwei halb leeren Teetassen, die auf seinem Nachttisch stehen, hat sich bereits Schimmel gebildet.
Doch am meisten beunruhigt mich die Art und Weise, wie er im Bett liegt – die Knie weit angezogen, die Fäuste geballt, die Decke zwischen seine Beine gequetscht, als habe er in einem sinnlosen Kampf mit ihr gerungen. Sein Gesicht hat nichts Niedliches oder Jungenhaftes mehr. Sein Mund ist schmal und verkrampft, die verquollenen Augen wirken wie Schlitze und seine Wangen sind von einer fleckigen Röte überzogen. Er steht unter Druck wie kein anderer von uns, doch ich fühle nicht Mitleid wie bei Jules oder Maggie, sondern Abscheu, obwohl ich deutlich erkennen kann, dass er geweint hat.
Noch einmal sehe ich mich um, bis mein Blick von einem kleinen Fläschchen ohne Beschriftung angezogen wird, das neben seinem Aftershave auf der Waschbeckenablage steht. Ich schraube es auf und schnuppere daran. Und rieche nichts. Trotzdem fühle ich eine Taubheit auf meiner Zunge, die mir beängstigend vertraut vorkommt. Eine durchsichtige Flüssigkeit in einem kleinen, unbeschrifteten Fläschchen … Nein. Das bringt er nicht fertig. Oder doch? Ist es das, was ich fürchte? War ich nach Jules’ Ohrfeige deshalb schlagartig so neben der Spur, dass ich nicht mehr denken und handeln konnte? Hatte ich gar keinen Kater vom Rum, sondern von – von K.-o.-Tropfen? Hat Tobias mir etwas in den Tee gegeben? Oder war es in einem der anderen Becher? Ich habe alle leer getrunken. Wollte er etwa Maggie gefügig machen? Einen der Jungs? Uns alle?
Mit eisigen Fingern stelle ich das Fläschchen zurück auf das Waschbecken. Ich will nicht wissen, was darin ist. Vielleicht später, aber nicht jetzt. Ich bleibe handlungsfähiger, wenn ich mir einrede, dass es lediglich harmlose homöopathische Tropfen sind, die er einnehmen muss.
Widerstrebend drehe ich mich zu ihm um. Ich muss mich überwinden, um meinen Arm ausstrecken und ihm das Handy aus der hinteren Hosentasche ziehen zu können, Millimeter für Millimeter, damit er ja nicht aufwacht und ich ihm nicht weismachen muss, ich sei gekommen, um seine Nähe zu suchen. Ich spüre Falks Hände noch immer auf meiner Haut. Niemand anderes darf mich heute anfassen, nicht für den besten Zweck der Welt. Doch Tobias ist so erschöpft, dass er auch dann nicht wach wird, als mir das Handy aus den Fingern gleitet und auf die Bettdecke rutscht.
Es ist ein Smartphone, ein neueres Modell mit Touchscreen wie das von Simon, und es ist eingeschaltet. Sehr gut. Manchmal darf man ja auch Glück im Leben haben.
Rückwärts ziehe ich mich aus seinem Zimmer zurück, das mir wie eine verwilderte Höhle vorkommt, bleibe im Flur stehen und starre auf sein Telefon, ohne mich zu rühren. Auf einmal wünsche ich mir sehnlich, dieses Ding in meiner Hand wieder loszuwerden. Ich verspüre einen tief sitzenden Ekel, als ich es anschaue und dabei an den Anblick von Tobias denke. Er ist mir unheimlich geworden – unheimlicher, als Jules es mir in den vergangenen Tagen je gewesen ist.
Doch vor allem kann ich nicht ohne Falk nach Hinweisen über Tobias’ Motive suchen. Stumm und ohne anzuklopfen, trete ich in sein Zimmer. Dieses Mal hat er die Gitarre nicht bei sich. Er liegt auf dem Bett, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und schaut aus dem Fenster. Die untergehende Sonne lässt sein Gesicht rosarot aufglühen. Er hat keine Angst vor dem Licht. Er blickt direkt hinein.
»Tobias’ Handy«, erkläre ich knapp und setze mich zu ihm. Plötzlich geht es mir wie bei meiner Suche mit Jules’ Laptop: Ich habe Angst nachzusehen, was sich in den Ordnern versteckt. »Mach du«, sage ich, als er sich aufgesetzt hat, und drücke es ihm in die Hand. An seine Schulter gekuschelt schließe ich die Augen. Ich will wissen, was er findet, aber ich will es nicht sehen.
Es kann sein, dass ich mich umsonst fürchte und wir gar nichts Brauchbares entdecken. Ich habe sowieso keine Idee, was das sein sollte. Wenn man etwas verbergen will, speichert man es nicht auf seinem Handy ab. An dem leisen Piepen der Tasten
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