Linna singt
…«
»Ist schon okay. Und was soll dieses Brimborium hier? Wen willst du denn verführen?«
Nun weichen seine Augen zur Seite aus. Er schaut auf den Boden, auf seinen Lebkuchen, in die Kerzen, deren Flammen sich in seinen Welpenaugen spiegeln, nur nicht in mein Gesicht. Ich habe eine kurze Vision von ihm und mir, wie wir oben auf der warmen Liegefläche des Kachelofens miteinander schmusen, so, wie man sich das ausdenkt, wenn man vierzehn ist und noch keine schlechten Erfahrungen machen musste. Meine Hand in seinem Haar, sein Kopf in meiner Halsbeuge, zärtliche Küsse und so weiter. Die ganze Palette unschuldiger Träume. In diesen Träumen gibt es den Bereich unterhalb der Gürtellinie nicht. Die Gedanken bewegen sich maximal bis zum Bauchnabel. Ich spüre meinen eigenen mit einem leisen Ziehen, als ich mich daran erinnere, wie auch ich mich einst in solchen Träumereien verloren habe. Es liegt eine Ewigkeit zurück.
»Marsch ins Bett, Tobi. Das war ein langer Tag.«
Sein Lächeln wird blasser, vermutlich hat er sich etwas anderes von seiner Inszenierung à la Bullerbü erhofft. Schweigend warte ich, bis er die Kerzen ausgepustet und den Becher in die Spüle gestellt hat, dann schleifen seine Hüttenschuhe über den Holzboden, und ehe ich realisiere, was er da gerade mit mir tut, schlingen sich seine Arme um meinen Hals.
»Gute Nacht, Linna«, sagt er, als wäre es für ihn das Normalste der Welt, fremde Frauen vor dem Zubettgehen kräftig zu herzen. Wahrscheinlich ist es das auch. Er ist einer von diesen Umarmern.
»Nacht.« Ich erwidere seine Umarmung nicht, wehre mich aber auch nicht dagegen. Er lässt seine Arme herabfallen, als er merkt, dass nicht mehr daraus wird, und trollt sich in sein Zimmer. Schräg gegenüber von meinem, registriere ich.
Reglos bleibe ich im Türrahmen stehen, bis die Hütte in einem festen, stillen Schlummer liegt. Soll ich es machen? Ich denke schon die ganze Zeit darüber nach. Ich würde es hassen, wenn jemand das Gleiche bei mir tun würde, aber ich habe auch niemanden belogen und vor den Kopf gestoßen. Ich möchte es sehen, um es glauben zu können. Ja, ich muss sehen, wie Maggie und Jules als Ehefrau und Ehemann nebeneinander im Bett liegen. Eng umschlungen womöglich. Vielleicht kann ich es dann zumindest akzeptieren.
Noch einmal rufe ich mir die Bettenaufteilung ins Gedächtnis. Simon hat bestimmt das Zimmer genommen, das der Stube am nächsten ist. Er möchte jede Minute einsatzbereit und am Ort des Geschehens sein, falls sich ein unverhoffter Versicherungsschaden ergibt. Das Zimmer direkt neben dem Klo wird vermutlich niemand freiwillig bezogen haben. Dann schlafen in einem der anderen beiden Zimmer Maggie und Jules. Ich entscheide spontan, mit dem linken zu beginnen. Millimeter für Millimeter drücke ich die Klinke hinunter und schiebe die Tür einen winzigen Spalt auf, um in den dunklen Raum hineinzulauschen. Schlafen sie? Ich höre ruhiges, regelmäßiges Atmen. Das könnte Jules sein. Es klingt männlich, finde ich. Maggie höre ich nicht, aber es gibt Menschen, die nahezu lautlos schlafen. Ich drücke die Tür ein Stückchen weiter auf und streife dabei versehentlich mit meinem Pulliärmel den Schlüssel. Ein helles, aber vernehmliches Klicken ertönt. Sofort halte ich inne. Haben sie mich gehört? Sind sie aufgewacht? Und wenn ja, was sage ich ihnen? Dass ich mich in der Tür geirrt habe?
Das Atmen verwandelt sich in ein leichtes Seufzen, dann setzt es aus. Jetzt muss ich hinsehen – und stelle überrascht fest, dass ich mich geirrt habe. Das Atmen kam von Maggie. Und zwar nur von Maggie. Sie liegt mit angezogenen Beinen auf der Seite, ihr rundes Gesicht zu mir gewandt und ein kleines Kissen in ihren Armen, das sie sich gegen die Brust drückt. Die Matratze neben ihr ist leer. Nun setzt ihr Atem wieder ein, nicht mehr ganz so gleichmäßig wie eben noch, aber gut hörbar.
Ich bleibe starr stehen. Ist Jules gerade auf dem Klo? Das hätte ich doch merken müssen. Hat er sich auf den Dachboden verzogen, um zu üben? Nein, unmöglich, das Schlagzeug würde durch die Decke dröhnen. Aber er liegt nicht neben Maggie. Er liegt nicht neben seiner Frau.
Ich kann dieses Rätsel nur lösen, wenn ich in das andere, letzte freie Zimmer schaue. Es fällt mir zunehmend schwer, leise zu bleiben. Ich muss mich konzentrieren, um mich nicht zu sehr zu beeilen. Langsam, Linna, rede ich mir zu, als ich die Klinke der Tür neben Maggies Zimmer hinunterdrücke.
Da bist du ja,
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