Linna singt
rauben – dazu kommt das Gefühl, permanent beobachtet und kontrolliert zu werden, obwohl ich genau weiß, dass ich der einzige Mensch in diesem Raum bin. Ich muss mich bewegen, irgendetwas tun, und wenn es nur ist, in der Hütte herumzulaufen. Niemand wird mich hören, ich bin geübt darin, kein Geräusch zu verursachen, sodass ich den Schlaf anderer Leute nicht störe.
Erst als ich im Flur stehe, kann ich wieder ruhiger atmen und mir ist, als würden die Wände ein Stückchen von mir zurückweichen. Hier ist niemand außer mir; ich bin ganz allein. Ohne Eile sehe ich mich im Untergeschoss um, inspiziere das eiskalte Klo und die auf altertümlich getrimmte Sauna samt angrenzender Badestube mit Zuber und Rückenschrubber, wo ich eine Weile sitzen bleibe, während die Gedanken an Jules und Maggie wie unbarmherzige Verfolger zu mir zurückkehren. Ich kann mich nicht daran gewöhnen. Ich kann mich vor allem nicht an den einzig konsequenten Rückschluss gewöhnen: dass ich Jules nicht gekannt habe. Dass ich mich in ihm verschätzt habe wie all die Mädchen, die hinter ihm her waren. Jetzt sitze ich mit ihnen in einem Boot. Noch niederschmetternder ist die Erkenntnis, dass Maggie die Einzige von uns ist, die ihn wirklich kennt. In all seinen Facetten. Es ist ein Privileg – ihr Privileg.
Obwohl ich sie nie als Konkurrentin betrachtet habe, haben mich ihr Neid und ihre Eifersucht stets auf Distanz gehalten. Es ist kein schönes Gefühl, beneidet zu werden. Aber jetzt kommt sie mir tatsächlich wie eine Konkurrentin vor – nicht um Jules’ Liebe, sondern um sein Vertrauen. Er vertraut mir nicht mehr. Sonst hätte er es mir gesagt.
Als mein Rücken sich vor Kälte zu verspannen beginnt, stehe ich auf und husche zurück in die Stube, die sich mir gänzlich anders präsentiert als bei meinem Verlassen. Im ersten Moment denke ich, ich träume. Ich lehne mich an den Türrahmen und schaue mir das Spektakel aus Licht und Kitsch ausführlich an. Tobi erwidert mein Mustern erwartungsvoll.
»Sollen wir vielleicht noch ein Bäumchen pflanzen?« Die beißende Ironie in meiner Stimme kann er nicht überhört haben, doch anscheinend stört sie ihn nicht. Er strahlt, als habe ich ihm ein Kompliment gemacht – das er sich im Grunde auch verdient hat. Auf den schweren Stützbalken, die längs und quer durch die Stube verlaufen, hat er jede Menge Teelichter und Duftkerzen aufgestellt und einige bereits entzündet, er hat Kuscheldecken auf der Liegefläche über dem Kachelofen verteilt und rot-weiß karierte Kissen auf der Eckbank ausgelegt. In der Mitte des Tisches steht ein Teller mit weiß angelaufenen Schokoladenlebkuchen und Spekulatius, daneben ein Becher, aus dem es heiß dampft. Ich fürchte, es ist banaler Tee und kein Grog. Ein starker Grog wäre nicht das Verkehrteste in dieser Situation.
»Nicht schön?«, hakt Tobias nach, als ich immer noch nichts sage. »Wollte gerade bei dir klopfen, um es dir zu zeigen. Ist doch schön, oder? Gemütlich.« Gemütlich scheint sein Lieblingswort zu sein, dicht gefolgt von romantisch.
»Du weißt aber schon, dass Weihnachten vorbei ist?«
»Jaaaa …« Er grinst mich schelmisch an. »Die Lebkuchen schmecken trotzdem noch. Möchtest du einen? Oder einen Tee? Ich hab Tee gekocht, Rooibos mit Vanille. Ist gesund. Ich hab Honig reingetan.«
»Mir kommen die Tränen«, erwidere ich trocken. Für einen gequälten Atemzug habe ich allerdings tatsächlich das Gefühl, losheulen zu müssen. Ich weiß nicht, wann mir das letzte Mal jemand Tee mit Honig gekocht hat, ach, ob mir überhaupt schon jemand Tee mit Honig gekocht hat. Fast jeder Mann in meinem Leben hat von solchen Sachen geredet, im Prahlen waren sie immer groß. Grüner Tee, Kaminfeuer und Fußmassage als Lockmittel, aber sobald sie ahnten, dass dieses Lockmittel wirkte, hatten sie ihre kühnen Versprechungen vergessen. Was ich nicht weiter tragisch fand, denn ich mag weder Tee noch den Anblick eines Mannes, der in debiler Entrücktheit an meinen nackten Füßen herumknetet.
Demonstrativ beißt Tobi in einen herzförmigen Lebkuchen und kaut eifrig, um schlucken und weiterbrabbeln zu können. »Wir könnten noch ein bisschen reden. Oder nicht?«
Reden. In Ordnung, reden wir.
»Hast du es gewusst?«, frage ich ihn ohne Umschweife. Er schluckt erneut, da er sich schon wieder einen Bissen Lebkuchen in den Rachen geschoben hat, doch als er antwortet, sprühen Krümel aus seinem Mund.
»Ja, hab ich. Aber ich dachte, du weißt es auch
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