Linna singt
denke ich, als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben. Jules liegt auf dem Bauch, den Kopf ins Kissen vergraben, und trotzdem weiß ich sofort, dass er es ist. Ich weiß es, weil ich früher oft neben Jules geschlafen habe, oben, auf dem Dachboden seines Elternhauses, während unserer Probenwochenenden. Jules und ich hatten unsere Lager immer nebeneinander, während Maggie meist Jules’ Zimmer bezog – in der Hoffnung, dass er ihr eines Nachts dorthin folgen würde.
Ich werde nie wieder neben ihm schlafen, schießt es mir durch den Kopf. Das wird Maggie mir nicht erlauben. Es gehört sich nicht, neben einem verheirateten Mann zu schlafen. Das darf nur seine Frau. Schon damals hatte Jules die Angewohnheit, sich irgendwann in der Nacht auf den Bauch zu drehen, das Gesicht zu mir gewandt, sodass ich ihn in aller Ruhe betrachten konnte. Auch jetzt laufe ich auf Zehenspitzen um das Bett herum, um ihn anzusehen, doch sein Kopf steckt so tief in dem Daunenkissen, dass ich nur sein rechtes Ohr erkennen kann.
»Jules, du erstickst noch«, sage ich leise und streiche ihm sanft über den Hinterkopf, bevor ich meine Handfläche gegen seine Schläfe drücke. Im Schlaf dreht er den Kopf zur Seite, bis seine Nase und sein Mund wieder frei liegen. Ein lauter Schnarcher entfährt ihm, seine Brauen sind gerunzelt, für ein paar Sekunden sieht er alt aus, uralt und vergrämt, dann glätten sich seine Züge wieder und sein Atem fließt gemächlich durch seine Kehle.
Nein, natürlich wacht er nicht auf. Er ist mich gewohnt. Auch nach fünf Jahren ohne meine Gegenwart weiß sein Unterbewusstsein immer noch, dass keine Gefahr von mir ausgeht.
Wahrscheinlich ist sein Schnarchen der Grund, weshalb er auf dieses Zimmer ausgewichen ist. Würde meine Nase noch funktionieren, könnte ich riechen, ob er und Maggie miteinander geschlafen haben, bevor jeder in sein eigenes Bett ging. Es ist einer der wenigen Momente, in denen ich dankbar dafür bin, es nicht zu können.
Aber ich erinnere mich daran, wie gut Jules früher gerochen hat. Er benutzte die exquisitesten Aftershaves, teure italienische Marken, und er beherrschte die seltene Kunst, sie so sparsam aufzutragen, dass man nicht genug davon bekommen konnte. Sie waren nie zu dominant, es war immer noch genug Jules übrig und beides hatte sich betörend harmonisch miteinander vermischt.
Mein Blick fällt auf seinen Ehering, den er auf den Nachttisch gelegt hat. Ich klaube ihn mit zwei Fingern vom Holz, schleiche ans Fenster und halte ihn gegen das schwache Schimmern von draußen. Im Inneren befindet sich eine Gravur. Meine scharfen Augen können die Zahlen und Buchstaben selbst in diesem Dämmerlicht sofort entziffern.
»Maggie forever, 22. August 2009.«
Nach der Bandauflösung. Es war danach! Wenigstens etwas. Doch es ist noch immer unbegreiflich für mich. Maggie und Jules sind seit zweieinhalb Jahren verheiratet. Zweieinhalb Jahre Ehe … Ich unterdrücke den Impuls, das Fenster zu öffnen und den Ring hinaus in den Schneematsch zu werfen.
»Du hättest es mir sagen müssen«, wispere ich, bevor ich den Ehering zurück auf den Nachttisch lege und auch Jules allein lasse. »Vor allem hättest du es mir sagen können. Du kannst mir doch alles sagen, Jules.«
Meine Knie zittern vor Müdigkeit, aber ich bin nach wie vor zu aufgeputscht, um ans Schlafen zu denken. Noch einmal gehe ich hinüber in die Stube und stelle mich mitten in den Raum, Platz nach allen Seiten, und doch komme ich mir gefangen vor, wie vorhin schon in meinem Zimmer. Plötzlich fällt mir auf, wie ruhig es in der Hütte geworden ist. Den Stromgenerator haben wir bislang nicht angeworfen, die Lampen und der Kühlschrank laufen über Gasbetrieb, was nur ein leises Zischen verursacht, das auch jetzt noch zu hören ist – das ist es nicht, was mich irritiert. Hier drinnen war es schon die ganze Zeit ruhig. Etwas anderes fehlt. Von draußen. Das Rauschen und Trommeln des Regens. Ja, es ist nahezu totenstill vor unserer Hütte.
Mit angehaltenem Atem gehe ich zur Tür der Stube und ziehe sie auf. Sofort umwirbein mich die Flocken, legen sich strahlend weiß auf meine nackten Hände und meinen dunklen Zopf, sie fliegen mir in die Augen und trudeln in meinen vor Staunen geöffneten Mund.
Es schneit … Der Regen ist in Schnee übergegangen. Die Temperaturen sind gesunken. Riechen kann ich den frisch gefallenen Schnee nicht mehr, aber ich weiß noch genau, wie er duftet, und für den Moment genügt mir das. Ich
Weitere Kostenlose Bücher