Linna singt
schließe die Augen und genieße seine Berührungen auf meiner Haut, kalt und rein. Er schenkt mir Eiskristalle, die direkt aus den Wolken kommen. Die niemand zuvor angefasst hat.
Sie gehören mir. Nur mir.
Und sie verschwinden so schnell und lautlos wie alles, was ich liebe.
QUICKSILVER
Ich weiche dem Sonnenstrahl auf meinem Kissen aus, bis ich keine Chance mehr habe, dem grellen Licht zu entkommen, und meine Lider rötlich zu flimmern beginnen. Ich kann nicht schlafen, wenn die Sonne scheint, auch das Ruhen fällt dann schwer. Einer von vielen Gründen, weshalb ich im Sommer manchmal um fünf Uhr morgens joggen gehe.
Eigentlich hatte ich vorgehabt, zeitig aufzustehen, um das Frühstück zuzubereiten. Aber im Zimmer ist es kalt und das Bett ist warm und ich bin auch nur ein Mensch. Es war spät, als ich heute Nacht Ruhe gefunden habe und trotz des nervtötenden Ohrwurms in meinem Kopf endlich einschlummerte.
Wenn ich dem Sonnenstreifen noch weiter ausweichen will, falle ich auf den Boden. Ich muss aufstehen. Außerdem tut sich da draußen etwas. Ich höre Rufen, Lachen, dazu ab und zu einen dumpfen Aufprall an der Hüttenwand. Die Jungs haben den Neuschnee entdeckt und liefern sich eine Schlacht.
Mit dem schweren Daunenplumeau um die Schultern trete ich ans Fenster. Ich muss erst mit einem Zipfel der Decke über die Scheibe wischen, bis ich hindurchsehen kann. Am unteren Rahmen haben sich sogar Schneeblumen gebildet.
Meine Vermutung bestätigt sich. Wie die jungen Hunde tollen Falk, Jules und Tobi durch den Schnee. Ihrem Beschuss fehlt die Leidenschaft aus Jugendtagen, aber immerhin versuchen sie es, ein halbherziger Treffer hier, ein missglückter Wurf da. Zwischen ihnen springt Luna bellend und japsend auf und ab. Sie versinkt fast bis zum Bauch im Schnee, auch die Hosen der Jungs sind bereits durchnässt. Simon steht abseits an einer der Holzbänke, die sich ohne jedes System über die Terrasse verteilen, und schaut dem bunten Treiben mit trübseliger Miene zu, die Hände tief in seinen Jackentaschen vergraben. Nur trübselig? Nein, er wirkt sogar traurig auf mich. Warum stimmt es ihn traurig, seinen Freunden bei einer Schneeballschlacht zuzusehen? Nun tritt Maggie zu ihm und reicht ihm einen Schal, den sie fürsorglich um seinen Hals wickelt, als er ihn einfach nur um seine Schultern hängen will. Simon presst die Lippen zusammen, lässt sie aber gewähren. Maggies Gesicht kann ich nicht sehen, sie dreht mir den Rücken zu, doch ihre Bewegungen wirken gebremst wie die eines Menschen, dem jeder Knochen schmerzt. Der Aufstieg gestern Abend muss sie restlos erschöpft haben. Jetzt legt sie die Arme um Simons Schultern und bettet ihre Wange an seine, als wüsste sie genau, was ihn bedrückt. Er schließt die Augen und ich sehe, wie seine Brust sich einmal schwer hebt und senkt. Was hat er nur?
Mich hat niemand bemerkt. Ich kann in aller Ruhe aus dem Fenster sehen. Ich habe keine Ahnung, wo wir hier sind, stelle ich fest und spüre, wie mein Zwerchfell kurz erzittert, eine Mischung aus staunender Freude und Unbehagen. Während unserer Fahrt hierher habe ich Falk absichtlich nicht gefragt, wohin genau wir fahren, und sein Navi habe ich ignoriert. Den Lautsprecher hatte er ohnehin deaktiviert. Alles, was ich über diesen Flecken Erde weiß, ist, dass er irgendwo hinter München und kurz vor der Grenze zu Österreich liegt. Mehr will ich nicht wissen. Jede weitere Information könnte mich verraten, falls sie es schafft, mich hier oben zu erreichen. Mein Handy hat nur schwachen Empfang und ich werde es lediglich sporadisch anschalten, aber sollte sie mich in diesen Momenten anrufen, kann ich ihr nicht sagen, wo ich bin. Ich werde dafür nicht lügen müssen, denn es ist die Wahrheit. Sogar der Name der Hütte ist beliebig. Ich war nicht oft in den Bergen, aber es ist bereits die zweite Brandalm, die ich von innen kennenlernen durfte. Wahrscheinlich gibt es in den Alpen Hütten namens Brandalm wie Sand am Meer.
Immerhin, dieser Plan ist aufgegangen – ich bin sicher vor ihr. Hier oben bin ich frei, wenigstens ein paar Tage lang, und trotzdem hat sich die Hütte gestern Nacht wie ein düsteres Gefängnis angefühlt. Jetzt, bei Tageslicht, kommt mir mein kleines Zimmer geräumiger vor, und auch das beklemmende Gefühl, beobachtet zu werden, hat sich zerstreut.
Ich ziehe den Schemel, der unter dem Waschbecken steht, mit den Füßen zum Fenster, setze mich samt Plumeau hin und beginne meine Haare zu kämmen. Ich
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