Linna singt
Wirkung eintritt.
Draußen poltern die Jungs über die Terrasse und klopfen sich lautstark den Schnee von den Schuhen. Die tiefen Stimmen von Jules und Falk und die helleren, jünger klingenden von Tobi und Simon schwirren durcheinander, ich schnappe die Wörter »Brennholz« und »Stromgenerator« auf. Sicherlich sind sie auf dem Weg in den Anbau, um das technische Herz der Hütte zu inspizieren. Angeblich sollen dort auch Skier und ein Holzschlitten lagern.
»Dann proben wir heute wohl noch nicht, was?«, frage ich gedämpft.
»Doch, das krieg ich schon hin. Irgendwie. Wir müssen endlich mal anfangen«, antwortet Maggie leidend. Sie überschätzt sich nicht, erinnere ich mich. Egal, ob Fieber, Ohrenentzündung oder Kopfschmerzen, Band- und Orchesterproben hat sie sich niemals entgehen lassen. Migräne wird sie auch nicht davon abhalten.
»Ohne mich. Ich hab Halsweh.«
»Was?« Sie dreht sich zu mir um und greift sich gleichzeitig mit verzerrtem Gesicht an den Nacken. »Halsschmerzen? Ehrlich?«
»Ehrlich.« Es ist nicht mal gelogen. Mein Hals tut weh, wie an fast jedem Tag im Jahr, weil ich in fast jeder Nacht träume, ich müsste singen, und wie immer freute ich mich darauf, bis der erste krächzende Ton mir zeigte, dass ich es nicht mehr konnte. Heute Nacht war es – Überraschung! – You’re the Voice von John Farnham. Meine Mandeln fühlen sich wund und entzündet an. »Ihr könnt ja trotzdem schon mal loslegen.«
Maggie schüttelt in Slow Motion den Kopf. »Nein«, entgegnet sie matt. »Ohne dich ist das blöd.«
»Maggie, ich bitte dich, du bist Profimusikerin, zuerst wird immer einzeln geprobt und dann gemeinsam, das ist normal …«
»Nicht bei uns«, widerspricht sie halsstarrig. »Nicht bei Linna singt.«
»Da hast du recht. Bei uns ist so einiges anders«, entgegne ich. »Andere Bandmitglieder teilen sich wichtige Lebensereignisse wie Hochzeiten, Geburten und Todesfälle mit.«
Maggie stöhnt getroffen auf. »Linna, ich … wegen gestern. Jules hat gesagt, ich soll mich bei dir entschuldigen … und …«
»Interessiert mich nicht«, falle ich dazwischen. »Mich interessiert nur, was du denkst und willst.« Ehrlich, Maggie, mich interessiert es. Schon immer.
»Es war blöd von mir. Ja, es war blöd. Zufrieden? Ich … ich … ach, ich weiß nicht.« Maggie nippt noch einmal an ihrem Glas, obwohl es schon leer ist. »Kam so über mich. Ich hätte es dir vorher sagen sollen. Okay?«
Ich zucke mit den Schultern. Vorher – was meint sie mit vorher? Vor zweieinhalb Jahren oder als ich in Neulußheim angekommen war? Wann auch immer – umschreiben kann es den gestrigen Abend nicht. »Okay. Vergessen wir’s. Herzlichen Glückwunsch nachträglich. Ist denn schon Nachwuchs unterwegs?«
»Nein«, faucht Maggie und dreht sich wieder von mir weg.
»Na, ihr habt ja noch Zeit. Ich sehe mir mal den Probenraum an.«
Dieses Gespräch führt zu nichts, wie immer, wenn ich Maggie auf den Zahn fühlen will. Es endet in Gezicke, ja selbst ich fange an zu zicken, und ich will weder zicken noch mit ihr streiten.
Wieder nähern sich die Schritte der Jungs, sie klingen wie das Getrappel von Hufen, dann wird die Tür zur Stube aufgerissen. Ein kalter Schwall Luft fährt in meinen Rücken, als sie, palavernd und ohne sich um uns zu kümmern, an uns vorbeiziehen, dieses Mal in Richtung Badestube. Falk trägt einen Stapel Holzscheite auf seinen Armen, während Simon im Gehen laut aus einer Anleitung vorliest und dabei jedes einzelne Wort betont, als könne mit ihrer Einhaltung eine strategisch äußerst wichtige Schlacht gewonnen werden. Tobi hat sich einen Eimer mit Steinen und Tannenzweigen unter den Arm geklemmt. Keiner von ihnen hat jetzt Sinn für die Frauen in ihrem Haus und deren Empfindlichkeiten. Maggies Kopf sinkt zwischen ihre verkrampften Schultern und sie beginnt erneut, ihre Schläfen zu massieren.
»Hey, Jungs!«, rufe ich ihnen halblaut nach. Nur Simon, nun das Schlusslicht, dreht sich fragend um, obwohl mir sein Gesichtsausdruck deutlich zeigt, dass er in seinen Ausführungen nicht gestört werden möchte.
»… Temperatur nicht übersteigen. – Was ist? Guten Morgen, Lavinia.«
»Seid mal bisschen leiser, Maggie hat Migräne.«
»Oh«, macht Simon mit mäßiger Betroffenheit. »Stimmt ja. Pscht! He …« Doch Falk hat schon unter lautem Scheppern die Holzscheite auf den Boden der Sauna fallen lassen. Kurz entschlossen gehe ich nach draußen, breche einen der dicken Eiszapfen von dem
Weitere Kostenlose Bücher