Linna singt
ich wusste nicht …«
»Was weißt du überhaupt?«, herrscht Falk ihn an. »Hast du dir auch nur eine Minute Gedanken darüber gemacht, was es heißt, hier oben zu sein? Dass wir eingeschneit werden könnten und deshalb genügend Brennholz brauchen? Dass die Leitungen zufrieren können? Dass das Dach einkracht, wenn es ganz blöd läuft? Und warum sagst du uns nicht, dass im Schuppen Hühner gehalten werden?«
»Weil ich es nicht wusste!« Tobi presst sich die Hand auf den Magen. Er schafft es nicht, Falk in die Augen zu sehen. »Ich wusste es nicht! Die haben … der … mein Onkel hat mir nichts davon gesagt!«
»Richte deinem Onkel einen schönen Gruß aus und dass seine Hühner Geschichte sind.«
»Nicht ganz«, berichtige ich Falk erneut und schiebe das Huhn zurück unter meinen Pulli. »Und jetzt lass den Kleinen in Ruhe, vielleicht hat er es wirklich nicht gewusst.«
Wenn Falk so weitermacht, fängt Tobi entweder an zu weinen oder er kotzt uns auf die Schuhe. Ich drehe mich um und trage das Huhn in sein neues Refugium, wo ich es vorsichtig beim Stromgenerator absetze und einen Schritt zurücktrete. Skeptisch blicke ich mich um. Doch, das ist ein angemessenes Plätzchen für ein schwaches Huhn; nicht ganz so kalt wie draußen und vor allem trocken und sauber. Und wenn es im Schuppen Hühner gab, wird im Anbau auch irgendwo Einstreu und Futter zu finden sein. Doch Falk kommt mir zuvor. Er wirft ein Bündel Tannenzweige auf den Boden und stellt zwei flache Schalen daneben – eine mit Wasser und eine mit eingeweichten Brotresten. Das Huhn bleibt starr vor Angst neben dem Stromgenerator sitzen und gibt keinen Mucks von sich. Auch wenn es einen durchweg jämmerlichen Eindruck macht: Es muss das stärkste von allen gewesen sein. Es wurde nicht totgebissen und durch sein beständiges Gurren hat es mich davon überzeugt, dass es nicht erdrosselt werden darf. Dieses Huhn wusste genau, wie es sich zu verhalten hat, um zu überleben.
»Und, wie willst du es nennen?«, fragt Falk mit milder Ironie.
»Linna«, antworte ich kühl und rausche an ihm vorbei nach draußen, wo ich meine Hände tief in den Schnee stecke, um sie vom Hühnerdreck zu reinigen. Dann wische ich meine Finger mit dem letzten sauberen Taschentuch, das ich in meiner Hosentasche finde, trocken und richte mich kerzengerade auf.
Ja, ich bin noch hier, eingeschlossen im Schnee mit Menschen, denen ich nicht mehr trauen sollte, aber ich kann wieder denken, und kämpfen erst recht. Willkommen zurück im Ring, Linna.
ON HORSEBACK
So geht das nicht. Mein Kopf ist zu voll und gleichzeitig immer noch zu taub. Weißes Rauschen. Ich brauche einen Ohrwurm, irgendetwas, was ich innerlich summen kann, während ich zu ihnen in die Stube gehe. Ich schließe die Augen und konzentriere mich.
Hey and away we go through the grass, across the snow … big brown beastie, big brown face, I’d rather be with you than flying through space … Sofort spannen meine Stimmbänder sich an, früher habe ich diesen Refrain lauthals mitgesungen, restlos überzeugt davon, dass Mike recht hat mit dem, was er sagt, auch wenn ich nie erleben durfte, was er auf dem Rücken seiner Pferde erlebte … Sie hätte das niemals verstanden; ich hätte ihr das Lied hundert Mal vorspielen können und sie hätte es nicht kapiert.
»Jedes Mädchen in deinem Alter will reiten. Das sind unterdrückte sexuelle Wünsche«, fuhr sie mir über den Mund, als ich mit vierzehn darum bettelte, wenigstens eine einzige Reitstunde zu bekommen, und von da an schwor ich mir, dieses Thema nie wieder anzusprechen. Es waren keine unterdrückten sexuellen Wünsche. Es war etwas vollkommen anderes, von dem sie keine Ahnung hat.
Mike jedoch weiß es und sein Lied muss mir helfen. Denn es ist ein Lied, bei dem man nicht traurig sein kann, höchstens sehnsüchtig, aber Sehnsucht habe ich mir seit gestern Abend verboten. Also ergebe ich mich jetzt dem Frohsinn und lasse den Gedanken an Jule’s Ohrfeige gar nicht erst aufkommen. Stolz strecke ich den Nacken und öffne die Tür zur Stube.
»Guten Morgen«, rufe ich zum Tisch hinüber, wo sie bereits in trauter Gemeinschaft zusammensitzen und mir entgegenschauen. Sie kommen mir vor wie Geier, die sich neben ein sterbendes Tier gehockt haben und immer näher hüpfen, weil sie seinen Tod wittern. Sie wetzen ihre Schnäbel.
I like thunder and I like rain and open fires and roaring flames. But if the thunder’s in my brain I’d like to he on horseback
Weitere Kostenlose Bücher