Linna singt
Wichtigste, ohne Gesang brauchen wir gar nicht erst aufzutreten.«
»Falk kann singen«, werfe ich ein, weil mich ihr Geschnatter zu nerven beginnt. Der Vorschlag ist nicht aus der Luft gegriffen. Falk hat keine markante Stimme und erst recht keine unverwechselbare, aber auch keine schlechte, und sie ist mit den Jahren sicherlich voller geworden. Wir hatten immer ein paar Songs im Programm, die Falk gesungen hat, und manchmal gab es auch ein Duett, das er und ich gemeinsam bestritten haben. More than Words von Extreme zum Beispiel. Nur Falk und ich, seine Gitarre und unsere Stimmen.
»Ja, aber sie haben uns wegen dir gebucht, wegen dir, Linna! Das war die Bedingung und wir müssen endlich gemeinsam proben, wenn wir uns nicht lächerlich machen wollen!«
»Ach, Maggie, das ist doch Quatsch!« Hoppla. Jules hat soeben den Schweigeangriff gegen seine Frau verloren. »Du weißt genau, dass Linna sich jeden Song in ein paar Minuten draufschafft, und es sind ja fast alles Songs, die wir früher schon gespielt haben. Mit ihr können wir uns nicht blamieren, das geht gar nicht! Linna kann nicht falsch singen, sie hat das absolute Gehör, hast du das vergessen? Sie braucht uns nicht, um die Songs zu üben, das macht sie nebenbei unter der Dusche.«
»Ich finde, du übertreibst.« Maggies Lippen sind dünn geworden und ihre Nase spitz. Was sie sich da anhören muss, gefällt ihr ganz und gar nicht, und mir ist es peinlich. Jules muss ein verdammt mieses Gewissen haben. Zu Recht, wie ich finde. Trotzdem könnte er seine Lobhudelei etwas mäßigen. »Jeder Musiker muss proben, gerade dann, wenn er kein Profi ist.«
»Ach, Profi …« Jules prustet abfällig. »Linna kann alles singen. Wenn du sie zu DSDS oder The Voice of Germany oder irgendeinem anderen Scheiß schicken würdest, würde sie jede Konkurrentin an die Wand singen, jede! Und zwar, ohne zu proben! Du kannst wahllos einen Song rausgreifen und sie ihn singen lassen, sie wird es immer so tun, dass die Leute ausflippen.«
Hör auf, Jules, denke ich betreten. Du weißt nicht, was du da redest.
»Und warum tut sie es dann nicht? Warum? Warum nutzt du es nicht, Linna? Warum gehst du nicht zu DSDS und singst alle Konkurrenten an die Wand, warum hast du jeden Plattenvertrag abgelehnt, den wir hätten bekommen können?«
Oh nein, nicht dieses alte Thema wieder. Wie oft soll ich das noch erklären? Warum begreift sie es nicht?
»Weil sie keine Nutte is’«, erinnert Falk Maggie leise, aber bestimmt, ehe ich es tun kann. »Weil sie sich nich’ verbiegen lassen will. Wir können die Arrangements doch ohne sie proben und Linna kuriert sich aus, was spricht denn dagegen? Wir sitzen hier sowieso fest.«
»Spricht nichts dagegen«, bekräftigt Jules. Simon nickt nur müde, während Maggie kopfschüttelnd, aber ohne Widerworte das Geschirr aufeinanderstapelt. Allein Tobi wirkt enttäuscht, doch das tut er seit gestern Abend pausenlos. Wahrscheinlich hätte er mir gerne ein bisschen zugehört und dabei seine Stallhasenfantasien gepflegt, wenn er schon nicht bei mir landen kann. Und Falks Anschiss hat sicher nicht zur Aufhellung seiner Laune beigetragen.
»Schön«, sagt Maggie schließlich in einem Ton, der uns allen beweist, dass sie es nicht im Entferntesten schön findet. »Dann treffen wir uns um elf oben auf dem Dachboden zum Proben.« Sie steht auf, scheucht Simon und Jules von der Bank – dazu genügen ihr ein giftiges Aufblitzen ihrer Augen und ein Wedeln mit den Händen – und verlässt ohne Blick zurück die Stube. Ein Musterbeispiel der nonverbalen Konversation. Übersetzung: Ihr habt mich verletzt, weil ihr Linna lobt und mich nicht, und außerdem dürft ihr allein den Abwasch machen.
Irgendwie hat sie sogar recht. Die Jungs haben mich gerettet. Die Verkrampfungen in meinen Schultern lösen sich ein wenig, als ich begreife, dass ich bekomme, was ich brauche, wenigstens in Ansätzen. Eine Rückzugsmöglichkeit in einem Raum nur für mich, ganz allein, bei geschlossener Tür, ohne unentwegt beobachtet zu werden.
Jules lag nicht falsch mit dem, was er über mich sagte. Ich muss mir einen Song höchstens dreimal anhören und kann den Text auswendig. Irgendeine seltsame Spezialbegabung, das ging mir schon im Alter von zwölf, dreizehn Jahren so, obwohl ich manche Worte gar nicht verstanden habe. Die meiste Zeit beim Proben wendeten wir für die anderen auf, nicht für mich. Aber ich habe gerne geprobt, vor allem im Keller von Jules; ich habe mir vorgestellt,
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