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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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intellektuellen Stil, wenn man so möchte. Sein Vater leitet ein Agrar-Versuchslabor im Auftrag der BASF, aber er hält auch Nutzvieh und Falk weiß genau, welche Schritte er in einer solchen Situation zu unternehmen hat. Nutzviehhalter sind nicht zimperlich.
    Trotzdem schaue ich unentwegt hin und keuche nur erstickt auf, als er seine Finger um den Hals des Huhns legt und ihn mit einem kräftigen Ruck umdreht. Das Tier erschlafft augenblicklich, während seine Augen starr offen bleiben und mich nach wie vor fest ansehen. Das andere Huhn ist still geworden. Es weiß jetzt, dass ihm das gleiche Schicksal blüht. Noch einmal dringt ein seufzender Atemzug aus Falks Brust, dann wirft er das tote Huhn zu den anderen hinter den Schuppen. Ihre dünnen Krallen ragen wie verdorrte Gewächse aus dem Schnee. Sofort wendet er das übrig gebliebene Huhn auf den Rücken, ein kurzer, sachlicher Blick, schon fängt es an, panisch zu gackern und zu flattern und …
    »Nein!«, schreie ich. »Nein, nicht auch noch dieses, bitte nicht!«
    »Linna …« Falk stöhnt geplagt auf, lockert seinen Griff jedoch.
    »Nein. Nein, wir versuchen es aufzupäppeln, nur einen Tag, bitte. Einen Tag. Diese Chance geben wir ihm, die hat jeder verdient. Wir müssen es versuchen! Jetzt kann es ja auch nicht mehr totgebissen werden, es ist kein anderes Huhn mehr da, das es totbeißen kann, und …«
    »Möchtest du es vielleicht in deinem Zimmer halten?« Falk schaut mich an, wie alle Landwirte kleine Mädchen anschauen, die auf Gedeih und Verderb ein dem Tode geweihtes Tier retten wollen, weil sie es so niedlich finden. Ich finde das Huhn nicht niedlich, aber es muss eine Chance bekommen, eine faire Chance.
    »Nein, ich möchte es nicht in meinem Zimmer halten, aber wir könnten den Schuppen reinigen und ihm Futter bringen. Und so.« Ernüchtert stelle ich fest, dass ich nicht das Geringste über Hühnerhaltung weiß und absolut keine Lust habe, diesen verdreckten Stall sauber zu machen. Nicht ohne Seife, heißes Wasser und Sagrotan. »Oder wir bringen es im Anbau unter. Da ist es wärmer.« Und es kackt zwischen unsere Nahrungsmittel. Aber wir könnten die Vorräte auf die oberen Regalbretter umlagern … Oder wie wäre es mit dem kleinen Nebenraum, in dem der Stromgenerator und die Gasflaschen stehen? Ja, das könnte eine Lösung sein. Falk schaut mich an, als warte er nur darauf, dass ich einsehe, wie naiv mein Vorschlag ist, und ihn auch noch das letzte Huhn töten lasse, doch ich schiebe ihm die japsende Luna entgegen und strecke meinen linken Arm aus.
    »Huhn«, befehle ich so streng und entschieden, wie es mir mein Lawinenschock samt Beinahetod erlaubt. Mein Entschluss steht fest. Falk wird dieses Huhn nicht töten.
    Wortlos und mit jenem Blick, den Ärzte gerne ihren besonders irren Patienten schenken, reicht er es mir und nimmt Luna entgegen. Ich muss auch die andere Hand benutzen, um das Huhn zu halten, es ist schwerer, als ich dachte, aber vor allem ist es trotz des Drecks und der kahl gehackten Stellen erstaunlich weich und anschmiegsam.
    Sobald Falk es loslässt, wird es ruhig. Ohne nachzudenken, schiebe ich es unter meinen Fleecepulli, lege beide Arme unter seine Krallen und stolziere wie eine Hochschwangere durch den Schnee zur Hütte zurück. An Lunas Hecheln und an ihrem unterdrückten Bellen – sie hätte zu gerne auch ein Huhn ganz für sich alleine – höre ich, dass Falk mir dicht auf den Fersen ist. Ich glaube, er ist sauer, ich spüre seinen Zorn wie eine kalte Wand in meinem Rücken. Etwa, weil ich das Huhn gerettet habe? Hat ihm das Töten solchen Spaß gemacht, dass er es noch einmal tun wollte? Ich laufe etwas schneller, ein, zwei Schritte und ich habe den Anbau erreicht …
    »Du!«, donnert seine Stimme durch die frostige Luft. Mit dem Huhn unter dem Pulli drehe ich mich um und sehe gerade noch, wie er Tobi am Schlafittchen packt und gegen die Wand der Hütte drückt. »Warum hast du uns nichts von den Hühnern gesagt? Dahinten sind fünf Hühner elendig in ihrem eigenen Dreck verreckt!«
    »Vier«, korrigiere ich Falk und geselle mich zu ihm und Tobi. »Eines musste Falk gerade persönlich umbringen. Das hier ist das einzige, das noch lebt.« Ich ziehe das zitternde Huhn unter meinem Pulli hervor und halte es Tobi anklagend vor die Augen, doch auch er zittert. Er sieht übernächtigt und bleich aus, fast schon grünlich um die Nase. Wahrscheinlich hat er einen Kater. Dieser Rum muss Teufelszeug sein.
    »Ich … aber ich …

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