Lions - Feuriger Instinkt
ihn zukam, ging sie langsam und mit gesenktem Kopf – offensichtlich erschöpft. Doch als sie ihn sah, leuchteten ihre Augen auf, ihre Energie kehrte zurück. Sie schien sehr froh, ihn zu sehen. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Seit seine Mutter vor so vielen Jahren gestorben war, hatte er nicht mehr erlebt, dass jemand so froh war, ihn zu sehen.
»Hey!«
»Hi.«
Jess setzte sich neben ihn und zuckte sichtlich zusammen, als er anstelle eines Lesezeichens die Ecke der Seite in dem Tolkien-Buch umknickte. Er konnte ihren inneren Schrei »Sakrileg!« beinahe hören.
»Was ist los, Liebling?«
Sie nannte ihn immer so, wenn sie allein waren. Ihr persönlicher Spitzname für ihn. Er hätte sich darüber ärgern sollen, aber es war so lange her, seit ihn jemand bemuttert hatte.
»Ich glaube, es gibt etwas, das ich dir sagen muss.«
»Dann sag es mir.«
Er sah sie an. Jetzt konnte es unangenehm werden. Doch bevor er ein Wort herausbrachte, nahm Jess seinen Arm und flehte: »Bitte sag mir, dass du nicht mit Kristan geschlafen hast.«
»Was?«
»Ist es nicht das, was du mir nicht zu erzählen wagst?«
»Nein!«
Jess ließ seinen Arm los. »Puh! Ich dachte schon.«
»Kann ich weitermachen?«
»Klar.«
»Es geht aber trotzdem um Kristan.«
»Was ist mit ihr?«
»Sie trifft sich mit ihrem biologischen Vater. Schon seit ein paar Wochen.«
Langsam richtete Jess den Blick auf ihn. »Und wie ist das möglich, wenn sie jedes Mal, wenn ich oder ihre Mutter gefragt haben, mit dir zusammen oder in der Bibliothek war?«
»Ich habe sie sozusagen gedeckt.«
»Also hast du mich angelogen.«
»Ja.« Er hatte sich bis zu diesem Augenblick noch nie schuldig gefühlt, wenn er gelogen hatte. Doch jetzt sahen ihn diese liebevollen braunen Augen an. Sie würde ihn definitiv hinauswerfen. Kristan war die Chefin unter den Welpen. Er hätte sie beschützen müssen, anstatt ihr zu helfen, mit diesem Mist davonzukommen. »Es … es tut mir leid.«
»Das sollte es auch. Du bist der Älteste, du solltest die Welpen beschützen.«
»Ich weiß.« Keine große Sache. Er konnte irgendwo anders leben. Er hatte eine Menge Notfallpläne. Er wurde dieses Wochenende siebzehn. Nicht ganz erwachsen, aber mit einem gefälschten Ausweis könnte er sich einen Job besorgen und …
»Sag deinem Taschengeld zwei Wochen auf Wiedersehen, Freundchen. Und dass mir das nicht wieder vorkommt!«
Er runzelte verwirrt die Stirn. Wo war die Wut? Die Missbilligung? Der Befehl, sich aus ihrem Haus zu verpissen?
»Warum starrst du mich so an, Liebling?«
»Um ehrlich zu sein, dachte ich, du würdest mich rauswerfen.«
»Wofür? Ich meine, du hast definitiv Mist gebaut, deshalb bekommst du auch zwei Wochen kein Taschengeld, aber du wirst nirgendwohin gehen. Abgesehen davon haben wir das Adoptionsverfahren schon angefangen.«
Johnnys Herz ließ buchstäblich mehrere Schläge aus. »Adoption?«
»Ja.«
»Ihr adoptiert mich?«
»Ja. Haben wir nicht mit dir darüber gesprochen?«
»Nein.«
»Hm, müssen die Brownies gewesen sein.« Jess schaute kurz in die Weite und lächelte dann. »Es waren wirklich gute Brownies. Dunkle Schokolade.«
Als er sie nur anstarrte, sagte Jess: »Warte. Willst du etwa nicht, dass wir dich adoptieren?«
»Ich werde am Samstag siebzehn. Ich dachte, ich müsste weg, wenn ich achtzehn bin.« Das System warf Pflegekinder mit achtzehn hinaus. Auch dafür hatte er Pläne, falls die Meute ihn in einem Jahr vor die Tür setzte.
Aber zu seinem Entsetzen hatten sich Jess’ Augen mit Tränen gefüllt.
»Nicht … nicht weinen! Ich wollte damit nicht sagen, dass ich nicht will, dass ihr mich adoptiert!«
Sie schniefte. »Was dann?«
»Ich wollte sagen, dass mich bis jetzt nie jemand adoptieren wollte. Ich dachte mir, wenn ich achtzehn bin, erwartet ihr von mir, dass ich gehe.«
»Nein, wir erwarten nicht, dass du gehst. Wir erwarten, dass du aufs College gehst. Ich nehme an, dass du deinen Abschluss in Musik machst. Wobei mir einfällt – wir müssen uns hinsetzen und überlegen, bei welchen Schulen du dich bewerben willst.«
»Ich … ich denke, dort, wo ich ein Stipendium bekomme.«
»Stipendien sind gut und schön für Lebensläufe. Aber wenn du keines für eine gewünschte Schule bekommst, haben wir schon ein College-Sparbuch für dich eingerichtet, damit das bezahlt ist. Die Frage ist also, wo du hingehen willst .«
»Ich habe ein College-Sparbuch?«
»Natürlich. Jedes von euch kleinen Gören wird aufs
Weitere Kostenlose Bücher