Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland
«Westwärts 1&2» (1975). Darin ist auch das folgende, schnell zum Klassiker gewordene Gedicht enthalten:
Einen jener klassischen
schwarzen Tangos in Köln, Ende des
Monats August, da der Sommer schon
ganz verstaubt ist, kurz nach Laden
Schluß aus der offenen Tür einer
dunklen Wirtschaft, die einem
Griechen gehört, hören, ist beinahe
ein Wunder: für einen Moment eine
Überraschung, für einen Moment
Aufatmen, für einen Moment
eine Pause in dieser Straße,
die niemand liebt und atemlos
macht, beim Hindurchgehen. Ich
schrieb das schnell auf, bevor
der Moment in der verfluchten
dunstigen Abgestorbenheit Kölns
wieder erlosch.
Was später multikulturelle Gesellschaft hieß, ist hier schon vorhanden: Da sind die nach dem Krieg hässlich wieder aufgebauten deutschen Innenstädte, in denen der ästhetische Reiz von einer griechischen Wirtschaft ausgeht, aus der ein wiederum nicht zu ihr gehörender schwarzer Tango ertönt. Brinkmann ist ein scharfer Beobachter gesellschaftlicher Heterogenität, aus der er einen kostbaren Moment hervorgehen lässt. Viermal wird das Wort «Moment» geradezu beschwörend wiederholt, und der Leser wird durch die zahlreichen Enjambements (Zeilensprünge) in die Bewegung des Gedichts hineingezogen, das schon mit seinem ersten langen Satz «atemlos» macht.
Wirkt das Gedicht einerseits ganz zeitgemäß, so erfüllt es doch eine der ältesten Aufgaben der Lyrik, denn es führt das «punktuelle Zünden der Welt im Subjekte» vor, wie es der Literaturtheoretiker Friedrich Theodor Vischer im 19. Jahrhundert genannt hatte. Dieses Subjekt sagt markant am Versende «Ich» und rettet mit dem Aufschreiben eine Erfahrung, die in der Wirklichkeit so schnell «wieder erlosch», wie es der letzte, bewusst kurze Vers abbildet. Brinkmann, der immer einen romantischen Impuls besessen hatte, wandte sich zunehmend von politischen Hoffnungen ab: «Die ganze Rebellion mit Pop, Untergrund, den Leuten dort, den Linken usw. usw.» ist für mich vorbei, schrieb er in einem Brief an seine Frau Maleen. Stattdessen beobachtete er das «Mondlicht in einem Baugerüst», dies ein weiterer Gedichttitel aus «Westwärts 1&2».
So wie es für das Selbstverständnis der Bundesrepublik zentral war, sich negativ vom ‹Dritten Reich› abzugrenzen, um sich gleichzeitig den Folgen der Verbrechen verantwortlich zu stellen,so wird auch in der Literatur die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus dauerhaft geführt. In höchst eigenwilliger Form geschieht dies in
Walter Kempowskis
(1929–2007) Roman «Tadellöser & Wolff» (1971), der wie sein gesamtes Werk lange Zeit bei der Literaturkritik wenig Anerkennung fand. Das hat mit der Lebensgeschichte des Autors zu tun. Denn Kempowski hatte Erfahrungen mit der Unfreiheit und Brutalität der DDR gemacht, die in Zeiten der Entspannungspolitik nur ungern zur Kenntnis genommen wurden. Von 1948 bis 1956 war er im Zuchthaus Bautzen unter entwürdigenden Bedingungen inhaftiert, seitdem lebte er in der Bundesrepublik. Er war nicht der einzige Autor mit einer deutsch-deutschen Biographie, und gerade in den späten Siebzigerjahren kam es nach der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann (*1936) aus der DDR zu einer größeren Bewegung in den Westen; Sarah Kirsch (*1935) oder Günter Kunert (*1929) sind zu nennen. Sie alle hatten Schwierigkeiten mit ihrer neuen Position: Von den DDR-Intellektuellen wurden sie skeptisch angesehen, galten als jene, die den leichten und materiell angenehmen Weg genommen hatten. In der Bundesrepublik passten sie in keine politische oder ästhetische Formation; zudem handelte es sich oft um ausgeprägte Individualisten, die eingespielte politische oder moralische Konventionen nicht beachteten.
«Tadellöser & Wolff» erzählt die Geschichte einer bürgerlichen Familie in den Jahren 1938 bis 1945. Das vorangestellte «Alles frei erfunden!» ist ironisch zu verstehen, wie schon die Verwendung des Familiennamens Kempowski im Text signalisiert. Tatsächlich ist der Roman aus intensiven Recherchearbeiten und aus einer großen Materialsammlung hervorgegangen, die Tonbandaufnahmen, zum Beispiel Erinnerungen der Mutter, ebenso wie Briefe, Dokumente, Fotoalben und Familienrequisiten umfasst. Erzählt wird in der Ich-Perspektive aus der Sicht eines Jungen im Alter von 9 bis 16 Jahren. Entscheidend ist, dass die Perspektive des Jungen nicht durch nachträgliche Reflexionen oder ein zusätzliches Wissen verändert wird. Das erzählende Ich ist nahezu
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