Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland

Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland

Titel: Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: von Dirk Petersdorff
Vom Netzwerk:
begegnet man Menschen, denen jede Selbstverständlichkeit verlorengegangen ist, die in einer ungeheuer angestrengten und künstlichen Form miteinander umgehen:
    Mich friert’s, wenn du so redest, sagte sie. Dann ist es gut, sagte er, mir wird warm, wenn’s dich friert, wenn ich rede. Dann gibt’s doch ein Gewitter, sagte sie. Oh du Naturalistin, sagte er, wir bewegen uns am Rand einer Katastrophe und du redest wie ein Wettermann. Wir sind beide ein bißchen verführt momentan, sagte er, laß uns aufpassen. Wir sind doch schon weiter als die, sagte er. Du vielleicht, sagte sie. Bine, sagte er, ich weiß, du nicht. Ich auch nicht. Bine. Wehr dich doch gegen diese Verführung durch die Familie Buch, Mensch. Auch wenn das, was die tun, das Richtige ist. Laß uns beim Falschen bleiben.
    Dieses Gefühl, im Falschen zu leben, ohne noch sagen zu können, was denn das Richtige wäre, bestimmt die Figuren. Denn auch der scheinbar kraftstrotzende Klaus Buch ist in Wirklichkeit ein Gescheiterter, wie seine Frau enthüllt. Hinter seinen Aufbrüchen steckt das Gefühl, immer nur «Schwindel» getrieben zu haben, hinter seiner Liebesbedürftigkeit die Sorge, heimlich der «letzte Dreck» zu sein. Wenn diese Gefühlsbewegungen den Leser manchmal quälen, dann liegt dies an der Position des Erzählers. Anders als Botho Strauß, der ein vergleichbares Personal auftreten lässt, nimmt Walser keine Distanz gegenüber den Figuren ein. Er kann ihre Gespräche im Bett wiedergeben, kennt ihren Widerwillen gegen den eigenen Körper ganz genau, macht ihren Selbsthass fühlbar. Aber ein skeptisch-beobachtender oder ironischer Umgang mit dieser Welt fehlt, und man atmetschon erleichtert auf, wenn Klaus Buch Helmut Halm einmal als «große Problemschraube» bezeichnet.
    Wenn die Historiker feststellen, dass in der Bundesrepublik der Siebzigerjahre die Selbstentfaltungswerte dominant wurden, die Thematisierung des Innenlebens kommunikativ breiten Raum einnahm und erhebliche Energie in die Freizeitgestaltung floss, dann liefert Walser dazu die Novelle. Hier tritt ein intellektueller Mittelstand auf, der keine weitreichenden Überzeugungen mehr besitzt, aber diesen Zustand nicht als Erleichterung, sondern als Defizit empfindet. Im Studium in Tübingen ist man mit den großen Ideen der Vergangenheit versorgt worden und findet sich nun in einem entspiritualisierten Alltag wieder, in dem die «unerhörte Begebenheit» der klassischen Novelle im Wiedereinfangen eines fliehenden Pferdes besteht. So befindet man sich in einem dauerhaften Konflikt von verblassten Idealen und gegenwärtigem Zustand. Nicht einmal neue Fahrräder kann man kaufen, ohne diesen Kauf zu problematisieren, die Räder stehen zu lassen und die Fahrradkleidung wieder auszuziehen: «‹Ich kann sowas nicht tragen›, sagte Helmut».
    Wie es zur Herausbildung eines solchen Lebensgefühls kam, kann eine Erzählung verständlich machen, die einige Jahre früher, 1973, erschien und hohen zeitdiagnostischen Wert besitzt:
Peter Schneiders
(*1940) «Lenz». Der Protagonist, ein junger Intellektueller, ist Teil der Protestbewegung des Jahres 1968 gewesen, engagiert sich in ihren Ausläufern auch weiterhin, schlägt sich aber zunehmend mit Zweifeln herum: «Er mache den Eindruck eines Kriegers, der in eine Schlacht gezogen und verwundet daraus zurückgekehrt sei», sagt eine Bekannte zu ihm. Die Sorge, die Lenz äußert und die ihn in psychische Krisen treibt, richtet sich auf die Vereinseitigung des politischen Menschen, der seine Umwelt zwanghaft auf abstrakte Begriffe bringt, seine individuelle Besonderheit sowie sein sinnliches und ästhetisches Verlangen unterdrückt, nur noch Umgang mit Ideen hat. Demgegenüber lernt Lenz nun die «Einzelheiten» wieder wahrzunehmen, die sich nicht in ein vorgegebenes Raster fügen, er bewegt sich mit höchster Aufmerksamkeit durch Landschaften, bis ihm «übel vom Schauen und Herumlaufen» wird. Diesgeschieht in Italien, wohin er aus Berlin geflohen ist. Dort gelingt ihm für kurze Zeit sogar eine Vereinigung von politischer Tätigkeit und sinnlicher sowie psychischer Freiheit; in der studentischen Gruppe, in der er sich bewegt, fasst man sich an, ohne dass dies anzüglich gemeint ist, und Lenz kann von seinen Träumen und Ängsten sprechen, ohne als unzuverlässig und unproduktiv angesehen zu werden wie in seinen Berliner Zirkeln. Als Lenz aus Italien ausgewiesen wird und nach Deutschland zurückkehrt, entschließt er sich, so seine markante letzte

Weitere Kostenlose Bücher