Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland
deckungsgleich mit dem erlebenden Ich. Der Leser gewinnt damit eine große Nähe zu den geschildertenEreignissen, erlebt sie mit. So liest sich der Romanschluss, der die Ankunft der Roten Armee in Rostock festhält:
«Ich glaube, nun sind sie da.»
Einzelne Schüsse in der Ferne. Ich ging nach vorn und kuckte aus dem Fenster, da stand ein Motorrad mit Beiwagen, ein Russe darauf. Den Beiwagen voller Schuhe, vom Schuster nebenan geholt.
Schnell die Gardine zufallen lassen und auf den Balkon zurück. «Ja, nun sind sie da.»
Eigentlich hätte man ja hinunterlaufen müssen und sie begrüßen. «Hurra» schreien oder «Bravo». Lieber oben bleiben, die wären gewiß furchtbar wütend auf uns.
Das Schießen kam näher.
«Oh Himmel», sagte meine Mutter, stand auf und begoß die Tradeskantie. Und nun auch in der Nähe, einzelne Schüsse, wohl Freudenschüsse.
Und da fuhr: zäng! auch einer durch den Birnbaum. Blütenblätter segelten herab.
«Wie isses nun bloß möglich», sagte meine Mutter. «Ich glaub’, wir gehen ’rein.»
Diese Sprache ist höchst lebendig: Die Sätze sind immer wieder verknappt, Jargon ist eingefügt («zäng!»), Gedanken werden unmittelbar protokolliert («lieber oben bleiben»), und dabei kommt es zu komischen Effekten, weil der Junge mit der Situation des Kriegsendes auf seine Weise umgeht: «die wären gewiß furchtbar wütend auf uns». Manche Intellektuelle gingen an solchen Stellen auf Distanz, sahen Sprachregelungen verletzt, die politisch aus gutem Grund existierten. Doch so wie die Literatur andere Freiheiten als der politische Diskurs besitzt, erkannten sich sehr viele Leser sofort in Kempowskis Familie wieder. Dies gilt vor allem für den Versuch, das ‹Dritte Reich› einfach nur zu überstehen: ohne ideologische Begeisterung, auch ohne Widerstand oder ein Übermaß an Reflexivität. Man hielt sich die Realität mit Sprüchen vom Hals: «Wie isses nun bloß möglich», unterteilt die Welt in «Gutmannsdörfer» und «Schlechtmannsdörfer», setzt Humor ein, um wenigstens eine innere Freiheit gegenüber den offiziellen Festlegungen zu bewahren.
Trotz seiner perspektivischen Begrenzung ist der Roman historisch ergiebig. Aus der Sicht des Kindes wird deutlich, wie die bürgerliche Familie die Frühphase des ‹Dritten Reiches› mit einer Mischung aus Zustimmung und Überlegenheitsgefühlen gegenüber den unkultivierten Nationalsozialisten begleitet. Der Junge erlebt im Rahmen seiner Erfahrungen auch die Gewalttätigkeit des Systems, wenn ihm von einigen Hitlerjungen zwangsweise die Haare abgeschnitten werden. Die Mutter wird dort aktiv, wo sie ihre Familie gegen den Staat und die Partei verteidigen muss. Der Roman singt kein Loblied auf die Kempowskis, er treibt auch Spott mit ihnen, aber er verurteilt sie nicht. Der Autor stellt dar, wie es zwischen 1938 und 1945 an manchen Orten in manchen Familien zugegangen ist, und er kann sich darauf verlassen, dass die inzwischen historisch aufgeklärte Leserschaft dieses Bild nicht mit der Gesamtrealität des ‹Dritten Reiches› verwechseln wird.
Wenn Kempowski damit zur Differenzierung des Vergangenheitsdiskurses beiträgt, dann verfährt er auch ästhetisch alles andere als konventionell. Der Roman besteht aus einer Fülle von überwiegend kurzen Blöcken, führt die Sprunghaftigkeit und Heterogenität des Lebens auch in einer politisch festgefügten Gesellschaft vor. Erzeugt wird dieser Eindruck vor allem durch das Mittel der Montage. Kempowski war ein großer Sammler und Arrangeur, wie sich später in seinem Monumentalwerk «Das Echolot» zeigte, das Äußerungen von Zeitzeugen der Jahre 1941 bis 1945 versammelt und das gerade durch das Nebeneinander völlig verschiedener Stimmen und Tonlagen wirkt, von Deutschen und Alliierten, Tätern und Opfern, Mächtigen und Wehrlosen, Bekannten und Unbekannten. Aber schon «Tadellöser & Wolff» besticht durch die Lebensfülle, die der Erzähler nicht reglementiert, sondern zu Wort kommen lässt. Dennoch tritt dieser Erzähler mit eigener Weltwahrnehmung hervor. Er betrachtet die menschliche Natur mit Skepsis, hält ironische Distanz zur Mitwelt, spricht lakonisch, nicht volltönend, besitzt kein geschlossenes Weltbild, verfolgt hartnäckig ein Ziel: sich ein Mindestmaß an Freiheit zu bewahren. Im Blick auf eine zukünftige Ordnung nachdem Krieg heißt es: «Das Haar würde man sich wieder wachsen lassen können.»
Wie Walter Kempowski kam auch
Uwe Johnson
(1934–1984) aus der DDR in
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