Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland

Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland

Titel: Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: von Dirk Petersdorff
Vom Netzwerk:
Werner Fassbinders, der in seiner Wohnung herumläuft, heult, raucht, trinkt, sich mit seinem schwulen Partner streitet, im Bett liegt, seine Mutter interviewt und insgesamt «völlig fertig» ist, wie er glaubwürdig demonstriert. Es folgen: Rückblenden in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts; Episoden um eine Geschichtslehrerin, Gaby Teichert, in denen auch Ironie aufblitzt; Bilder von einem SPD-Parteitag, einem Herbstmanöver der Bundeswehr und aus einer Fabrikhalle von Daimler-Benz; krimiähnliche, fiktionale Szenen; die Diskussion um eine Aufführung der «Antigone» des Sophokles. Das Ganze ist immer wieder mit Musik unterlegt, aus Joseph Haydns «Kaiserquartett», aus dem die Melodie der Nationalhymne hervorging, von Peter Tschaikowski («Herbstlied»), Ennio Morricone («Here’s to You») und Wolf Biermann.
    Der Film nimmt, und das macht seine Stärke aus, keine eindeutige Position ein. Als deutliche These tritt zwar die Behauptung einer historischen Kontinuität hervor, in der die Bundesrepublik nicht als Neuanfang erscheint, sondern militärisch, wirtschaftlich und mental unheilvolle deutsche Traditionen fortsetzt. Aber schon dieses Bild wird mit Widersprüchen versehen, wenn der Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel, Sohn des Generals Erwin Rommel (1891–1944), den Terroristen ein Begräbnis in der Stadt nicht verweigert, oder wenn Gesten der Hilfsbereitschaft und Liebe vorgeführt werden, die Wärme in das vorwinterliche Land bringen sollen. Zudem erscheint der Weg der Terroristen bei allem Verständnis für ihren ursprünglichen Zorn als Irrweg. Der meisterhafte und nochheute außerordentlich beeindruckende Filmschluss, in dem die Teilnehmer des Begräbnisses sich zerstreuen, während Polizisten die Straßen sichern, strahlt keinen Kampfeswillen mehr aus, sondern Erschöpfung und Trauer, die Gewalt soll einfach nur aufhören. Wenn ganz am Ende eine Hippie-Mutter ihre Tochter an der Hand führt und dazu Joan Baez eingespielt wird, kann dies als Signal verstanden werden: Die Hoffnung richtet sich auf eine neue Generation, die im Geist des Friedens erzogen wird und die Welt womöglich anders einrichten kann als die Vorfahren auf beiden Seiten.
    Seit den Siebzigerjahren entwickelte sich eine deutschsprachige Rock- und Popmusik, die sich an den musikalischen Standards des englischen und amerikanischen Raumes orientierte, gleichzeitig aber auch deutsche Liedtraditionen aufgriff, von der Romantik bis zur Weimarer Republik, deren intelligent-urbane Unterhaltungskultur in der Nachkriegszeit zunächst keine Fortsetzung gefunden hatte.
Udo Lindenberg
(*1946) verband eine genaue Wahrnehmung gegenwärtiger Befindlichkeiten mit sprachlicher Sensibilität und einer Unbekümmertheit, die «total vibrier» auf «Beruhigungsbier» reimte; ein Liebeslied begann nun so:
    Du spieltest Cello
In jedem Saal in unsrer Gegend
Ich saß immer in der ersten Reihe
Und ich fand dich so erregend.
    In diesem Song werden bekannte Konstellationen aufgegriffen, wenn der Liebende der verehrten Frau überall hin folgt, aber nun «mit dem Moped oder schwarz mit der Bahn»; auch das Ende variiert die alten Muster: Die Frau führt ein bürgerliches Dasein, das Cello landet im Keller. Solche Topoi werden neu belebt durch den Jargon des Selbstverwirklichungsmilieus, in dem man eben «völlig fertig» ist.
    Lindenberg dichtet und singt von Außenseitertypen, die sich aber nicht mehr politisch definieren, sondern einen Lebensstil pflegen, der eine materielle Grundversorgung sichert, um sichansonsten Leistungsgesetzen zu verweigern. Ein gelungenes Leben geht aus emotionalen Intensitäten hervor: «Und wir waren die zwei Geflippten, / die durch nichts zu bremsen sind». Was so kreativ-sprachspielerisch beginnt, führt in der Fortsetzung in bekanntes lyrisches Gelände. Bildlichkeit und Reim sichern die Balance zwischen Originalität und Konvention: «und wir schwammen gegen die Strömung / und rannten gegen den Wind.»
    Immer wieder gelingen mit dieser Mischung aus Sentimentalität und Lakonie, aus Pathos und Jargon Lieder, in denen eine größere Gruppe von Menschen die eigene Gefühlswelt wiedererkannte. Nichts anderes wollten schon die alten Volkslieder erreichen, und Verse wie «Hinterm Horizont geht’s weiter» nehmen romantische Denkweisen wieder auf. Manchmal gelingen auch Lieder, die darüber hinaus einen historischen Zustand in Worte fassen. 1973 erschien der höchst überraschende Song «Mädchen aus Ost-Berlin»:
    Stell

Weitere Kostenlose Bücher