Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland
Äußerung, zum «Dableiben».
Was hier geschieht, kann man mit dem Philosophen
Odo Marquard
(*1928) deuten, der ebenfalls 1973 ein Buch mit dem Titel «Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie» veröffentlichte. Darin wird erklärt, dass im Verlauf der Moderne nach Phasen intensiver geschichtsphilosophischer Hoffnungen, die sich auf eine zukünftige Gesellschaft ohne Ungleichheit, ohne Gewalt und Zwänge richten, die Anthropologie, also die Lehre vom Menschen, ihr Recht fordert. Sie interessiert sich zum Beispiel für das Verhältnis von Körper und Geist und weist darauf hin, dass zur Realisierung gesellschaftlicher Utopien dem Menschen heftige Selbstunterdrückungen abverlangt werden und dass politische Intellektuelle Schwierigkeiten damit haben, die Vielfalt und Verschiedenheit der Außenwelt zu akzeptieren, die sich umfassenden Steuerungsphantasien widersetzt. So entgegnet Lenz einem Freund innerhalb eines langen, klärenden Gesprächs: «Ihr könnt nur allgemein, in Begriffen sagen, was ihr haßt oder liebt, ihr habt Angst davor, daß euch irgend etwas gefällt, weil ihr Angst habt, daß ihr dann nicht mehr kämpfen könnt.»
So weit wie Marquard, der die bundesrepublikanischen Intellektuellen dazu auffordert, den Gestus der Dauerentlarvung aufzugeben, die «Wacht am Nein» zu verlassen, der einen «Abschied vom Prinzipiellen» und eine «Apologie des Zufälligen» betreibt, geht Peter Schneider mit seinem Lenz nicht. Allerdings zeigt sich hier ein Weg für linke Intellektuelle, mit dem Modell der liberalen Gesellschaft einen Frieden zu machen, der zumindest ein «Dableiben» ermöglicht: Man korrigiert die eigenenTheorien, Mao etwa wird ausgemustert; man befreit sich von der ständigen Selbstkontrolle, von der Idee, sämtlichen Ereignissen eine Bedeutung geben zu müssen; historische und ästhetische Vergangenheiten werden nicht mehr nur als etwas wahrgenommen, das es zu überwinden und zu beseitigen gilt. Dieser letzte Punkt weist schon auf die ‹Postmoderne› der Achtzigerjahre voraus.
Aber diese Lockerungsübungen gehen nur langsam, unter Turbulenzen, Qualen und Schuldgefühlen, voran. Immer wieder finden sich Sätze, die ungewollt parodistisch wirken: «Wenn du redest, wirkst du ganz optimistisch. Wenn ich dich sitzen sehe, wirkst du irgendwie resigniert». Es entstehen windungsreiche Lebensläufe: «Damals fand sie es richtig, mit so vielen Männern zu schlafen wie möglich. Sie tat es, bis es ihr langweilig wurde. Danach hatte sie mit einer Frau gelebt, die eine Fabrik leitete, sich aber in ihren vier Wänden Pierras Wünschen und Launen vollkommen unterwarf. Später war sie an einen Masochisten geraten, sie wusste nicht, ob sie ihn erst dazu gemacht hatte oder ob er von Anfang an einer war.» Das Knäuel aus Psychologie und Politik ist noch unentwirrbar. Eine zusätzliche Dimension gibt Schneider seiner Erzählung, wenn er sie literaturgeschichtlich anreichert. Da ist nicht nur die Italienreise, die schon seit der Frühen Neuzeit der sinnlichen Wiederbelebung deutscher Rationalisten dient, sondern vor allem Georg Büchners (1813–1837) Erzählung «Lenz», die aus einer vergleichbaren mentalen Situation nach den Utopien hervorging, in diesem Fall der politischen der Französischen Revolution und der ästhetischen von Klassik und Romantik.
Finden die intellektuellen und lebenspraktischen Umorientierungen der Siebzigerjahre in der Literatur ihren Platz, so ist der Terrorismus, der wie ein bedrohlicher Fremdkörper in diese Zeit hineinragt, am eindrucksvollsten im Film bearbeitet worden. Von den Kämpfen und Verwirrungen des Jahres 1977, in dem der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer getötet, die Lufthansa-Maschine «Landshut» entführt und gestürmt wurde, die RAF-Anführer Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe Selbstmord begingen, erzählt
«Deutschland imHerbst».
Er ist das Werk mehrerer Regisseure, zu nennen sind vor allem Rainer Werner Fassbinder, Alexander Kluge und Volker Schlöndorff. Sie schufen eine höchst heterogene Montage, die aber thematisch und zeitlich zusammengehalten wird: Am Anfang steht die Trauerfeier für Hanns Martin Schleyer, am Ende das Begräbnis Baaders, Ensslins und Raspes. Beide Ereignisse fallen in den Oktober, die Herbst-Metaphorik reicht allerdings darüber hinaus, denn der Film erzeugt eine Atmosphäre der Trauer, des Verfalls und der Ratlosigkeit.
«Deutschland im Herbst» beginnt mit einer schonungslosen Selbstdarstellung Rainer
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