Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland
die Bundesrepublik. Er hatte sich nach dem Krieg mit dem Sozialismus identifiziert, ein Studium in der DDR abgeschlossen, die aber sein Frühwerk, das in der Tradition der literarischen Avantgarden stand, ablehnte. Mit dem Erscheinen des Romans «Mutmassungen über Jakob» im Suhrkamp-Verlag zog Johnson 1959 nach West-Berlin und wurde schnell in die westdeutsche Literaturszene integriert, von der «Gruppe 47» eingeladen, mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet. Während eines Aufenthaltes in New York begann er mit der Arbeit an dem umfangreichen Roman «Jahrestage», der in vier Teilen zwischen 1970 und 1983 erschien.
Im Unterschied zu den «Mutmassungen über Jakob», die eine Wahrheitssuche (im Anschluss an einen Todesfall) inszenieren, dabei mit den Verfahren der Fragmentierung, Perspektivenvielfalt und sprachlichen Verfremdung arbeiten, sind die «Jahrestage» grundsätzlich realistisch erzählt. Auch Johnson folgt damit der größeren literarischen Entwicklung seit den späten Sechzigerjahren, in der sich realistische Positionen durchsetzten, wie sie etwa auch in der «Kölner Schule» um Dieter Wellershoff vertreten wurden. Die «Jahrestage» enthalten zwar noch Elemente aus den Romanexperimenten des frühen 20. Jahrhunderts. So werden Texte, vor allem Artikel aus der «New York Times», einmontiert, spricht die Hauptfigur, Gesine Cresspahl, mit ‹ihrem› Schriftsteller, finden sich essayistische Passagen, zum Beispiel zum Thema der Erinnerung. Aber die Bindung an Gesine Cresspahl und ihre zehnjährige Tochter Marie, die Gliederung des Buches nach Daten und die starke Einbeziehung historisch-politischer Ereignisse vom Vietnam-Krieg bis zum «Prager Frühling» geben dem Roman realistische Stabilität.
In den Diskussionen zur Gattung des Romans ging es im 20. Jahrhundert immer wieder um die Frage, ob der Roman die «Totalität» eines Weltzustands darstellen könne. Einen solchen Versuch unternimmt Johnson noch einmal: Über die Lebensgeschichteder Hauptfigur sowie über die Erinnerungen an ihre Eltern fließt die deutsche Geschichte vom ‹Dritten Reich› bis zur DDR und Bundesrepublik in den Roman, über den Schauplatz New York und vor allem über die einmontierten Berichte aus der «New York Times» weitet sich der Blick räumlich, wird die weltpolitische Konstellation des ‹Kalten Krieges› sichtbar. So erscheint Gesine Cresspahl durchaus als exemplarisches Individuum des 20. Jahrhunderts.
Zudem vermittelt der Roman auch feste weltanschauliche Positionen: Der Kritik unterliegen ebenso die DDR, die Freiheitsrechte einschränkt und Menschen zu moralisch fragwürdigen Handlungen zwingt, wie das westliche Gesellschaftsmodell. Immer wieder wird der Rassismus in den USA erfasst, werden die Gewalttaten in Vietnam benannt. Die Hoffnung richtet sich auf einen dritten Weg, der sozialistische Forderungen wie die nach ökonomischer Egalität mit dem Freiheitsversprechen des Liberalismus verbindet. Daher konzentrieren sich Gesines Energien am Ende des Romans auf die Entwicklung in Prag, auf einen reformierten Sozialismus. Der letzte Eintrag des Romans ist auf den 20. August 1968 datiert; in der Nacht vom 20. auf den 21. schlugen die Truppen des Warschauer Paktes den Aufstand nieder. Das Scheitern der eigenen politischen Hoffnungen wird nicht mehr dargestellt, aber markiert.
Auch ansonsten vertritt Johnson zeittypische Positionen mit einer ostdeutschen Prägung. Denn stärker als im Westen hielt sich in der DDR die Tradition protestantischer Seelenerkundung, verbunden mit einem moralischen Rigorismus, der Gesellschaften daran misst, ob sie Gerechtigkeit herstellen und ihre Bürger umfassend moralisieren. So versucht Gesine Cresspahl nicht nur in sämtliche Details und die Schuldzusammenhänge ihrer Familiengeschichte einzudringen, äußert Appelle, verspürt einen politisch-moralischen «Auftrag» und legt Tonbänder an, auf denen sie für die Tochter ihre Gedanken und Empfindungen protokolliert. Marie unterliegt sehr stark dem emotionalen und intellektuellen Zugriff der Mutter. Da Marie auch eine amerikanische Identität besitzt, die sie gegen die Mutter verteidigt, kommt mit ihr tatsächlich eine gewisse Multiperspektivitätin den Roman. Doch der Weltordnungsanspruch Gesines dominiert die «Jahrestage».
Im letzten Eintrag wird Geschichte als «Entwurf» bezeichnet. Da sich die großen Hoffnungen nicht erfüllt haben, bleiben gegenwärtig nur Zeichen der Verbundenheit zwischen einzelnen Menschen. So befinden
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