Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland
sich Gesine, Marie und ein alter Lehrer Gesines im Schlussbild an der dänischen Ostseeküste, geraten beim Gehen ins Wasser, «rasselnde Kiesel um die Knöchel», halten sich an den Händen. Jenseits aller Konzepte ist Johnson ein Epiker, und die ästhetisch wohl schönsten Passagen schildern das Leben an der mecklenburgisch-pommerschen Ostseeküste, der Kindheitslandschaft Johnsons wie seiner Hauptfigur:
Zum Westen hin, wo die See war, stieg das Land hoch auf. Noch heute, auf einem steilen Weg, erwarte ich die Ostsee, die das Kind damals unverhofft von oben gesehen hat.
Westwind, wie meist, schlug uns entgegen. Links des Weges lagen die Nagelschen Felder; auf der rechten Seite stand ein einziges Haus, dick verpackt gegen die See mit dornigem Gestrüpp. Dies Haus hatte eine Sonnenuhr. Weil der Schafbock an diesem ersten Morgen verschlafen hatte, oder anderswo zu tun, kamen wir unangefochten bis zum Rand der Küste und kletterten sie hinunter. Dabei brach Boden los. Hilde lief schon lange hinter uns her, wir hatten sie wegen des landein stehenden Windes nicht rufen hören. Wir wurden streng vermahnt, einmal wegen Hildes Angst, zum anderen, weil wir das Hohe Ufer beschädigt hatten.–Dumm wie ein Badegast! wurde ein Wort dieses Sommers, und ist lange geblieben. Die Schwalben höhlten das ohnehin bröcklige Ufer schon genug aus.
In der Prosa der Siebzigerjahre findet man auch die Gegenwart der Bundesrepublik wieder, manchmal in geradezu peinigender Genauigkeit.
Martin Walsers
Novelle «Ein fliehendes Pferd» (1978) beginnt mit der Vorstellung der Hauptfigur Helmut Halm. Er befindet sich im Urlaub am Bodensee, ist mit seinem Beruf als Lehrer unzufrieden, besitzt einen Spaniel, möchte endlich Kierkegaard lesen und ist zu beständiger Selbstreflexion gezwungen: «Unerreichbar zu sein, das wurde sein Traum.» Er pendelt zwischen Banalität und Größenphantasie, führt mit seinerFrau ein Gespräch über selbst gebackenen Kuchen und denkt dabei gleichzeitig «Rette den Menschen». Martin Walser führt einen solchen Typus, der sich durch nagende Unzufriedenheit auszeichnet, schon seit den späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren vor, seit den umfangreichen Romanen «Ehen in Philippsburg» (1957) und «Halbzeit» (1960). Seine Figuren sind Erzeugnisse einer durchlässig gewordenen Gesellschaft, besitzen keinen festen sozialen Ort, leben ohne materielle Sorgen und können sich umso intensiver ihren Identitätsproblemen hingeben. Sie kritisieren die kapitalistische Welt mit ihrer «Lustfront, Freizeitfront, Scheinproduktionsfront», ohne dass sie an eine anders organisierte Gesellschaft glauben oder für sie kämpfen würden.
«Ein fliehendes Pferd» erprobt in der Konzentration einer Novelle die Konfrontation einer solchen Existenz mit einem scheinbaren Gegenmodell:
Plötzlich stand ein zierlicher junger Mann vor ihrem Tisch. In Blue jeans. Ein blaues Hemd, das offen war bis zu dem ungefärbten Gürtel, in den Zeichen eingebrannt waren. Und neben dem ein Mädchen, das durch die Jeansnaht in zwei deutlich sichtbare Hälften geteilt wurde. Wie sie, wohin man schaute, geländehaft rund und sanft war, war er überall senkrecht, durchtrainiert, überflusslos. Auf der tiefbraunen Brust hatte er nur ein paar goldblonde Haare, aber auf dem Kopf einen dicht und hoch lodernden Blondschopf. Wahrscheinlich ein ehemaliger Schüler, dachte Helmut.
Es handelt sich um den ehemaligen Tübinger Studienkollegen Klaus Buch, der viel jünger wirkt als Helmut und sich als Vitalist präsentiert. Nachdem man gemeinsam eine Segeltour und Wanderung unternommen hat, gelingt es Klaus, ein wild laufendes Pferd zu besteigen und zu bezähmen. Als er und Helmut eine zweite Segeltour ohne die Frauen unternehmen, kommt ein Sturm auf, den der Erzähler in faszinierender Weise gestaltet. Klaus genießt die Lebensbedrohung als Steigerung der Existenz, bis Helmut ihm die Ruderpinne aus der Hand schlägt und ihn so über Bord stößt. Der Totgeglaubte erscheint überraschendam nächsten Tag, als seine Frau Helene ein Trauergespräch mit den Halms führt. Die Paare trennen sich, die Halms nehmen ohne äußeren Anlass einen Zug nach Montpellier, die Ereignisse der vergangenen Tage müssen besprochen werden, sind Auslöser einer neuen Selbstaufarbeitung: «Es tut mir leid», sagt Helmut, «aber es kann sein, ich erzähle dir alles von diesem Helmut, dieser Sabine.»
Entscheidend ist die innere Handlung, sind Gedanken, Gefühle, Gespräche, und hier
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