Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland
ohne Anleitung durch seinen Meister Baldini und ohne technisch-handwerkliche Kenntnisse ein Parfum mischt:
Anscheinend wahllos griff Grenouille in die Reihe der Flakons mit den Duftessenzen, riß die Glasstöpsel heraus, hielt sich den Inhalt für eine Sekunde unter die Nase, schüttete dann von diesem, tröpfeltevon einem anderen, gab einen Schuß von einem dritten Fläschchen in den Trichter und so fort. Pipette, Reagenzglas, Meßglas, Löffelchen und Rührstab – all die Geräte, die den komplizierten Mischprozeß für den Parfumeur beherrschbar machen, rührte Grenouille kein einziges Mal an. Es war, als spiele er nur, als pritschle und pansche er wie ein Kind, das aus Wasser, Gras und Dreck einen scheußlichen Sud kocht und dann behauptet, es sei eine Suppe.
Baldini ist entsetzt, sieht nicht nur die «parfümistische Weltordnung» auf den Kopf gestellt, sondern durch das gewagte Hantieren mit einer großen Ballonflasche in der Nähe von Kerzen auch sein Haus bedroht. Aber als Grenouille sein Werk beendet hat und Baldini den neuen Duft riecht, reißt er die Augen auf und stöhnt vor Vergnügen: Dieses Parfum «war ein völlig neuartiges Ding, das eine ganze Welt aus sich erschaffen konnte».
Grenouille verkörpert in dieser Anordnung einen neuen Künstlertyp, jenes «Genie», als das er öfter bezeichnet wird. Das Genie hat seine Fähigkeiten von der Natur erhalten, es folgt seiner Intuition. Traditionen fesseln nur seine Fähigkeiten. Es will seine Besonderheit ausleben und beweist sich durch die Erfindung ganz neuer, bisher undenkbarer Produkte. Dagegen steht Baldini für ein älteres Konzept, das Kreativität an die Beherrschung von Regeln bindet: «Erfindung war ihm sehr suspekt, denn sie bedeutete immer den Bruch einer Regel.»
Überträgt man das auf die Literatur, dann bestimmte eine solche Regelpoetik bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts das Feld. In Regelpoetiken – bekannt sind Martin Opitz’ «Buch von der deutschen Poeterey» (1624) oder Johann Christoph Gottscheds «Versuch einer Critischen Dichtkunst» (1730)–werden die Strukturen von Gedichten und Dramen festgelegt. Die Autoren erhielten damit metrische und reimtechnische Anweisungen bzw. Gesetze für den Handlungsaufbau und die Auswahl des Personals. Ebenso erhielten sie Vorgaben zum moralischen Gehalt und zur Wirkung vorbildlicher Literatur; ästhetische Texte wurden an allgemeingültige Glaubens- oder Vernunftgrundsätze gebunden. Dagegen wendet sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine neue Poetik, die sich der Originalität verpflichtet.In Deutschland geschieht dies markant in der Phase des ‹Sturm und Drang›, als sich der junge Goethe gegen die «Herren der Regeln» wendet und diesen «Fehde» ankündigt. Es entstehen solche Werke wie Goethes freirhythmisches Gedicht «Prometheus» oder das offene Drama «Götz von Berlichingen».
Doch zurück zum «Parfum»: Grenouilles geniale Erfindungen sind dem Handwerk Baldinis weit überlegen, Paris ist bald ganz verzückt von seinen Parfums. Die Originalität siegt über die Regel. Aber dieser ästhetischen Entfesselung entspricht, so stellt es der Roman dar, auch eine moralische und gesellschaftliche Hemmungslosigkeit. Grenouille hat für seine Mitwelt nur Verachtung übrig und entwickelt Machtphantasien; er mordet, um neue Düfte kreieren zu können; am Ende unterwirft er sich eine ganze Stadt, die ihn, durch das perfekte Parfum in Raserei versetzt, als Herrscher verehrt und gottgleich anbetet. Damit weist der Roman auf Potenziale im Selbstverständnis moderner Autoren hin, die mit der Aufwertung der Bedeutung von Kunst weitreichende Wirkungs- und Steuerungswünsche verbanden, Hass auf den banal-ungeordneten Alltag empfanden. Mit der Absage an Traditionen und Regeln ging nicht selten auch eine Absage an Humanität einher, die Bilder der Entgrenzung waren nicht frei von Gewaltanteilen, die vollkommene Reinheit erforderte eine große Säuberung. So wird Grenouille auch in die Nähe charismatischer Politiker gerückt, die zur Durchsetzung ihrer Ziele jedes Menschenopfer brachten; auf Napoleon und Hitler wird indirekt hingewiesen. Allerdings ist zu sagen: Man muss den Roman nicht so lesen, kann sich an der Kriminalgeschichte und den Schauereffekten erfreuen. Beides, das Schwere und das Leichte, sind ineinander gewoben.
Mit solchen Kennzeichen wurde «Das Parfum» immer wieder zu einem Roman der
Postmoderne
erklärt. Dieser Begriff setzte sich international in den Achtzigerjahren
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