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Literaturgeschichte der USA

Literaturgeschichte der USA

Titel: Literaturgeschichte der USA Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Klarer
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versucht, dass in seinem Körper die Gesamtheit der Natur präsent ist, da alles miteinander verwoben ist. Ähnlich wie bei Whitman meint auch Montaignes Kannibale, dass in seinen Adern das Blut der Feinde bzw. ihrer Vorfahren fließt und sie daher mit ihm das Fleisch ihrer eigenen Ahnen verspeisen. Diesem Gedanken des organischen Ganzen auf ähnliche Weise folgend versucht Whitman, seine gesamte Umwelt in sich und seiner Lyrik im Sinne einer ganzheitlichen Introspektive aufzunehmen und zu zelebrieren.
    Im Gegensatz zur extrovertierten Position Whitmans scheint seine amerikanische Zeitgenossin
Emily Dickinson
(1830–1886) auf den ersten Blick einen genau umgekehrten Weg zu gehen und sich von ihrer Umgebung und Außenwelt völlig abzugrenzen. Dickinson stammte aus einer angesehenen Juristen- und Politikerfamilie aus Amherst, Massachusetts, deren Herkunft ins puritanische Neuengland zurückreicht. Sie erhielt eine sehr gute, ihrer Position angemessene Ausbildung und war in jungen Jahren relativ gut in die sozialen Aktivitäten der in der Öffentlichkeit stehenden Familie integriert. Mit zunehmendem Alter zog sich die unverheiratete Emily jedoch immer mehr aus dem öffentlichen Leben zurück. Ihr Aktionsradius war auf das Familienhaus und den dazugehörigen Garten in Amherst beschränkt. Selbst innerhalb des Familienanwesens pflegte Emily nur indirekten Kontakt mit Besuchern, mit denen sie, selbst in ihrem Zimmer sitzend, nur durch den Spalt einer aufgelehnten Tür hindurch sprach.
    In ihrer zweiten Lebenshälfte, die sich mit ihrem Rückzug aus der Gesellschaft deckt, schrieb Dickinson an die 1800 Gedichte, von denen aber nur ein halbes Dutzend während ihrer Lebenszeit publiziert wurde. Trotz enger brieflicher Kontakte zu Herausgebernund Kritikern wurde von diesen das innovative Potential von Dickinsons Lyrik in keiner Weise erkannt. Erst nach ihrem Tod fand sich in ihrem Zimmer eine große Zahl von selbstgebundenen Heften mit ihren Gedichten. Dickinsons Schwester sorgte für die erste Publikation der Gedichte einige Jahre nach dem Tod Emilys, wobei aber eine Vielzahl von Korrekturen der Herausgeber die Innovation und Originalität der Gedichte verfälschte. Auch blieb bis in die 1930er Jahre die Rezeption ihrer Gedichte sehr verhalten. Erst mit den New Critics und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die feministische Literaturwissenschaft wurde Dickinson ein ebenbürtiger – wenn nicht gar bedeutenderer – Platz neben Emerson, Thoreau und Whitman zugestanden.
    Was zeichnet Dickinsons Lyrik aus? Ganz im Gegensatz zu den öffentlichen Stimmen ihrer Zeit wie Walt Whitman ist Dickinsons Werk nach innen gerichtet, fokussiert, konzentriert und kondensiert; Dichtung versteht sie im Sinne von «Verdichten». Besingt Whitman Amerika in seiner Gesamtheit von Natur, Geographie und materieller Kultur seiner Bewohner, indem er Vers und Metrum freien Lauf zu geben scheint, bündelt Dickinson ihren Blick wie durch ein nach innen gerichtetes Brennglas. Viele ihrer Gedichte benützen eine sehr eigenwillige Metaphorik, die über weite Strecken an die
conceits
der
Metaphysical Poets
des 17. Jahrhunderts oder die symbolhafte Sprache der puritanischen Lyrik eines Edward Taylor erinnert, wie der Beginn des Gedichts «My life had stood a loaded gun» (ca. 1863) zeigt:
    My Life had stood – a Loaded Gun –
    In Corners – till a Day
    The Owner passed – identified –
    And carried Me away – […][ 67 ]
    Mein Leben lehnte – Schußbereit –
    Im Eck – bis eines Tages
    Der Eigner kam – erkannte Mich –
    Und hat Mich fortgetragen – […][ 68 ]
    Neben Dickinsons ungewöhnlicher Metaphorik, die das Leben des lyrischen Ichs mit einer geladenen Waffe gleichsetzt, wird hier die für Dickinson typische Balladenstrophe sichtbar, die aus meist vier Zeilen und dem Reimschema ABCB besteht. Auch verwendet sie für die Entstehungszeit untypische Großschreibungen und eine eigenwillige Interpunktion. Welchen Stellenwert diese Interpunktionszeichen bzw. typographischen Aspekte für Dickinson besaßen, zeigt sich in ihrer Reaktion auf eines der wenigen zu Lebzeiten publizierten Gedichte. Sie klagt hier, dass aufgrund eines vom Herausgeber zusätzlich eingefügten Beistrichs und Punktes der Sinn ihres gesamten Gedichts verfälscht wurde.
    Wie sehr in Dickinsons Lyrik die Innenwelt der Autorin an die Stelle der Außenwelt tritt, verdeutlicht eine Vielzahl von Gedichten, in denen das Bewusstsein quasi verräumlicht wird, wie z.B.

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