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Literaturgeschichte der USA

Literaturgeschichte der USA

Titel: Literaturgeschichte der USA Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Klarer
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im Gedicht «I felt a funeral in my brain» (ca. 1862):
    I felt a Funeral, in my Brain,
    And Mourners to and fro
    Kept treading – treading – till it seemed
    That Sense was breaking through – […][ 69 ]
    Begräbnis spürte ich, im Hirn,
    Trauernde auf und ab
    Stampften – und stampften – bis es schien
    Daß mir der Sinn einbrach – […][ 70 ]
    Hier zeigt sich Dickinsons Obsession mit Tod und Vergänglichkeit, die sich auch autobiographisch in ihren Briefen als bestimmender Faktor ihrer zweiten Lebenshälfte nachweisen lässt.
    Neben unkonventioneller Metaphorik des Innenlebens, typographischer Eigenwilligkeit und Todesthematik zeichnen sich viele Gedichte Dickinsons durch eine Hinwendung zu einer nicht näher identifizierten «Master»-Figur aus. Es ist nicht klar, ob es sich hierbei um eine real existierende Bezugsperson handelt. Viel eher aber scheint Dickinson sich mit dem «Master», den sie unter anderem auch als «Signor» oder «Sir» direkt anspricht,eine fiktive Person oder Figur geschaffen zu haben, die vom Liebhaber bis hin zum christlichen Erlöser unterschiedliche Funktionen in ihrem lyrischen Mikrokosmos zu erfüllen hat. So bezeichnet sie zum Beispiel in dem bereits erwähnten Gedicht «My life had stood a loaded gun» den Besitzer ihres Lebens, das sie wiederum mit einer geladenen Waffe gleichsetzt, als «My Master». Diese «Master»-Figur kann aber auch konkreter als «Gott» benannt werden wie in dem Gedicht «Over the Fence» (ca. 1861):
    Over the fence –
    Strawberries – grow –
    Over the fence –
    I could climb – if I tried, I know –
    Berries are nice!
    But – if I stained my Apron –
    God would certainly scold!
    Oh, dear, – I guess if He were a Boy –
    He’d – climb – if He could![ 71 ]
    Über dem Zaun –
    Wachsen Erdbeeren –
    Über den Zaun –
    Könnt ich – wenn ich wollte, klettern –
    Erdbeeren schmecken fein!
    Doch – mach ich Flecken auf meine Schürze –
    Schilt mich Gott bestimmt!
    Ach was, – ich glaube wär Er ein Junge –
    Er – kletterte – Selbst dorthin[ 72 ]
    In diesem Gedicht mit vordergründiger sexueller Konnotation klingt eine Vielzahl von Elementen an, welche die Lyrik Dickinsons auszeichnen: imaginäre Barrieren, die zu überschreiten eine Unmöglichkeit darstellt, eine häufig wiederkehrende Gartenmetaphorik sowie die übergeordnete «Master»-Figur, die als Gott bezeichnet wird, jedoch in ihrer Geschlechteridentität fast blasphemisch in Frage gestellt wird.
    Gerade in dieser nicht näher identifizierten Instanz einer Autorität, die als regulierender, aber nicht spezifizierter Bezugspunktfungiert, nimmt Dickinson postmodern anmutende, fast absurde Elemente vorweg. Ebenfalls ihrer Zeit voraus scheint Dickinson in Bezug auf die Materialität des Zeichens zu sein. In ihrer Sorge um typographische Aspekte als integrale, sinntragende Dimensionen des Textes erinnert Dickinson an die konkrete Poesie eines e. e. cummings im Modernismus des 20. Jahrhunderts. Es ist auch nicht verwunderlich, dass die eher archaisch anmutenden Elemente Dickinson’scher Lyrik, wie die «conceit»-artigen Metaphern, die wie ein Relikt aus dem amerikanischen Puritanismus erscheinen, gerade die modernistische Avantgarde beeindruckten. T. S. Eliot sieht in den 1920er Jahren in seinem berühmt gewordenen Essay über die
Metaphysical Poets
des 17. Jahrhunderts in deren Metaphorik ein Potential für modernistische Lyrik. So wird Emily Dickinson sowohl durch ihre Wurzeln in der puritanischen Vergangenheit als auch durch ihre fast psychologisierende Innenschau zu einer von Modernismus und Postmodernismus verspätet vereinnahmten Vorläuferfigur.

VI. Gilded Age – Realismus
    So richtungsweisend modern und surreal Emily Dickinsons lyrisches Werk aus den 1860er Jahren rückblickend erscheinen mag, so konventionell und realistisch präsentiert sich der Roman in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den USA. Dieses Zeitalter wird in der Literatur- und Kulturgeschichte von Mark Twain spöttisch als «Gilded Age», als «vergoldetes Zeitalter» bezeichnet. Das anbrechende, vermeintlich goldene Zeitalter, ist bei genauerem Hinsehen lediglich «vergoldet», weil es durch erstarkenden Kapitalismus und Materialismus von innen her ausgehöhlt wird. Es ist die Zeit der großen Monopolbildungen der Rockefellers, Carnegies oder Mellons, die in den neuen Industrien wie Rohstoffförderung, Eisenbahn oder Telekommunikation Fuß fassen konnten. Zur gleichenZeit kam es aber mit

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