Literaturgeschichte der USA
auch zu einem der populärsten Dramen des 19. Jahrhunderts in Amerika. Besonders das melodramatische Element, das Stowes Text anhaftet, war für den Bühnengeschmack der Zeit geradezu prädestiniert. Wir finden ähnliche Ingredienzien auch in den anderen Theaterstücken dieser Epoche, zum Beispiel in dem Mulattendrama
The Octoroon
(1859) des irischen Melodramatikers
Dion Boucicault
(1820–1890), der seine Stücke für den amerikanischen Markt schrieb. Hier wird eine weiß erscheinende Frau, die als «octoroon», also als Achtelmischblut, dem Gesetz nach als Schwarze gilt, als Sklavin verkauft. Wieder sind es klare Gegensätze zwischen Gut und Böse und eine sentimentale Handlung, die das Publikum begeistern.Bei
The Octoroon
wie auch bei
Uncle Tom’s Cabin
handelt es sich um die Stimmen von Autoren, die nicht der unterdrückten Minderheit angehören, sich aber als Sprachrohr dieser Gruppe verstehen. In beiden Fällen kommen nur schablonenhafte Figuren wie der duldsame Tom oder die
tragic mulatta
als angepasste Stereotypen zum Einsatz, deren Passivität keine Gefahr für den Fortbestand des weißen Establishments darstellt.
Jedoch haben bereits im 18. Jahrhundert Afro-Amerikaner ihre Stimme in den sogenannten slave narratives erhoben. Ein frühes Beispiel ist
Olaudah Equiano
(ca. 1745–1797), der mit
The Interesting Narrative of the Life of Olaudah Equiano, or Gustavus Vassa, the African
(1789) den Grundstein für die afro-amerikanische Autobiographie legte, indem er den Übergang von der westafrikanischen Kultur, aus der er als Elfjähriger durch die Versklavung herausgerissen wurde, zur amerikanischen beschreibt. Während die älteren «slave narratives» wie die Equianos den Übergang von der ursprünglichen afrikanischen Heimat in die neue Welt und damit die Akkulturation als Ausgangspunkt ihrer Erzählung wählen, konzentrieren sich die Texte des 19. Jahrhunderts vor allem auf die Umstände des individuellen Sklavenalltags und die meist erfolgreiche Erlangung der Freiheit.
Die Autobiographie
Narrative of the Life of Frederick Douglass, an American Slave
des entlaufenen und des Schreibens mächtigen
Frederick Douglass
(1818–1895) wurde nach ihrer Publikation 1845 zu einem Bestseller. Auch
Harriet Jacobs’
(1813–1897)
Incidents in the Life of a Slave Girl
(1861) wurde Teil dieser immer lauter werdenden afro-amerikanischen Stimmen in der Autobiographie.
Nicht nur in der Prosa findet die Literatur der USA um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer eigenständigen Stimme, sondern auch in der Lyrik kommt es zu tiefgreifenden Veränderungen. Wie stark das Gedankengut des Transzendentalismus auch noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachwirkte, zeigt sich auf ganz besondere Weise in der Person des Dichters
Walt Whitman
(1819–1892). Mit seiner 1855 im Selbstverlag erschienenen Gedichtsammlung
Leaves of Grass
gelingt esdem Schulabbrecher, Autodidakten, Drucker und Publizisten Whitman einerseits transzendentalistisches Gedankengut konsequent weiterzuführen, und andererseits amerikanische Lyrik wie niemand vor oder nach ihm zu revolutionieren.
Ähnlich wie Thoreau befolgt auch Whitman Emersons Dogma der Selbsterfahrung, die sich aus dem individuellen Umfeld speist. Während Thoreau der Natur einen besonderen Stellenwert beimisst, geht Whitman einige Schritte weiter. Seine Gedichte beziehen nicht nur die Natur im Sinne der physischen Umwelt mit ein, sondern weiten den Emerson’schen Naturbegriff auf alle Aspekte der materiellen Kultur aus. Whitman, der sich selbst als amerikanischer Barde im Sinne der Romantik und als Sprachorgan des Volkes begreift, zelebriert in listenartigem Singsang alle nur erdenklichen Erscheinungsformen. Natur wird in seiner Lyrik zum umfassenden kosmischen Container, dessen amerikanische Manifestationen es zu besingen gilt. So schreibt Whitman am Beginn seines Vorworts zu
Leaves of Grass
programmatisch: «The Americans of all nations at any time upon the earth have probably the fullest poetical nature. The United States themselves are essentially the greatest poem.»[ 57 ] Daraus folgt für Whitman konsequenterweise, dass sich in dem amerikanischen Barden, als den er sich sieht, Amerika zu manifestieren hat: «he incarnates its geography and natural life and rivers and lakes»[ 58 ]. In dieser kosmischen Funktion sieht sich Whitman als der transzendentale Mittler zwischen Natur und Geist «to indicate the path between reality and their souls»[ 59 ]. Whitman ist also
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