Literaturgeschichte der USA
Raven» (1845) nach strikt methodischen Gesichtspunkten verfasst zu haben, wobei alle kompositorischen Elemente auf
einen
bestimmten Eindruck auf den Leser abzielen. Von diesem «unity of effect» eines Textes leitet Poe seine weiteren Überlegungen und Kompositionsschritte ab. Dazu gehören ein kurzer Umfang eines Textes «to be read at one sitting»[ 54 ] («in einem Zug gelesen»)[ 55 ], aber auch rhythmische und lautliche Elemente, die den gewählten Gesamtaspekt unterstützen. In der Weise, in der Poe die umfassende Geschlossenheit eines Textes betont, gleichen seine Überlegungen den Grundprämissen der Literaturtheorie des
New Criticism
aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Der Leser von «The Philosophy of Composition» erleidet ein ähnliches Schicksal wie der Leser in den «tales of ratiocination»: eine übergeordnete Instanz wie der Detektiv oderhier Poe selbst (als der Autor des Aufsatzes) entlarvt uns als schlechte Leser seines Gedichts. «The Philosophy of Composition» gibt zwar vor, ein literaturtheoretischer Text zu sein, stellt sich bei genauerer Betrachtung aber vielmehr als eine weitere klug getarnte «tale of ratiocination» heraus.
Im selben Aufsatz gibt Poe auch tiefe Einblicke in die makabre Logik seiner Ästhetik, wenn er behauptet: «the death then of a beautiful woman is unquestionably the most poetical topic in the world»[ 56 ]. Diese Aussage erhält eine Schlüsselfunktion für das Verständnis der erotisierenden Darstellung sterbender Frauen in seinen Texten, wie z.B. in der Kurzgeschichte «Ligeia» (1838), die gleich den Tod zweier Frauen sowie die Rückkehr einer Toten behandelt.
Poes Hinwendung zum Abartigen wurde von seinen amerikanischen Zeitgenossen nicht nur positiv aufgenommen. Emerson – der Doyen des Transzendentalismus – konnte Poes Texten nur wenig bis gar nichts abgewinnen. Dies ist auch keineswegs verwunderlich, da Poes Erkundungen der dunklen Seite der menschlichen Psyche im offensichtlichen Widerspruch zum Zweckoptimismus und Utopismus der Transzendentalisten stehen. Ganz anders wurde Poe in Europa, vor allem in Frankreich von Charles Baudelaire und Stéphane Mallarmé, rezipiert, was wiederum indirekt eine positivere Bewertung Poes in den USA bewirkte.
Viel wohlwollender wurden hingegen in der Mitte des 19. Jahrhunderts traditioneller anmutende Prosatexte vom breiten Publikum aufgenommen. Ein sehr gutes Beispiel dafür, wie hartnäckig und erfolgreich sich die Handlungsstruktur der
sentimental novel
des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts (mit ihren melodramatischen schwarz-weiß Zeichnungen) halten konnte, ist
Harriet Beecher Stowe
s (1811–1896) Werk
Uncle Tom’s Cabin
(1852), das zum populärsten amerikanischen Roman des 19. Jahrhunderts avancierte. Aus ihrem weißen calvinistischen Glaubenshintergrund heraus entwirft Stowe den einflussreichsten Roman der Zeit vor dem amerikanischen Bürgerkrieg, den Abraham Lincoln während des Bürgerkriegs als «the book that made this war» bezeichnet haben soll.
Im Zentrum der Geschichte steht Uncle Tom, ein treuer, fast ins Heiligenhafte verklärter Sklave, der durch Verkauf von Frau und Kindern getrennt wird und in die Hände eines grausamen Yankees gerät. Als Tom sich selbst unter Peitschenhieben weigert, den Aufenthaltsort zweier flüchtiger Sklavinnen preiszugeben, stirbt er in Folge der Misshandlungen. Der junge Vorbesitzer George Shelby, der zur Rettung Toms angereist ist, kann ihm nicht mehr helfen, schwört aber feierlich, sich für die Abschaffung der Sklaverei einzusetzen.
Trotz der offensichtlichen Wirkung, die Stowes Roman für die Sklavenbefreiung und die emotionale Mobilmachung vor dem amerikanischen Bürgerkrieg zuzuschreiben ist, ist die Charakterisierung Toms nicht unproblematisch. Er wird in seiner überzeichneten Duldsamkeit jeglicher äußerlicher Ungerechtigkeit zu einer stereotypen Abstraktion des «good nigger», der allen Misshandlungen gegen sich und die Seinen mit passiver Unterordnung begegnet. Durch seinen Tod wird er als christusartige Figur zum Erlöser seiner Rasse stilisiert, der damit ein Umdenken in Rassenfragen in der weißen Kultur Amerikas herbeiführt. Nicht von ungefähr wird der Begriff «Uncle Tom» zum Synonym für einen angepassten, unterwürfigen und unmündigen Afro-Amerikaner.
Stowes Roman wurde – ohne ihre Zustimmung – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im ganzen Land immer wieder in verschiedenen Bühnenadaptionen als Theaterstück aufgeführt und so
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