Literaturgeschichte der USA
Moore
(1887–1972) mit ihren autobiographisch und mythologischmotivierten Arbeiten ins Blickfeld der Literaturwissenschaft. Parallel entwickelte sich neben den bisher behandelten amerikanischen Modernisten, die ihre literarische Sozialisation im europäischen Paris bzw. London erfuhren, in den Staaten eine relativ eigenständige Gruppe von modernistischen Dichtern. Zu diesen Lyrikern zählen Robert Frost, Wallace Stevens, William Carlos Williams und der konkrete Poet e. e. cummings. Während die «europäischen» Vertreter der amerikanischen Moderne rund um Ezra Pound und T. S. Eliot den Schlüssel zu einer literarischen Neuorientierung im Kosmopoliten sahen, war für die «Daheimgebliebenen» gerade das Lokale, zutiefst Amerikanische der Ausgangspunkt modernistischer Erneuerung.
Dass diese zweite Traditionslinie modernistischer Lyrik in den USA nicht unbedingt vordergründig experimentell und oder akademisch verspielt sein muss, zeigen die Gedichte
Robert Frost
s (1874–1963). Sein «Stopping by Woods on a Snowy Evening» aus dem Jahr 1920 erinnert oberflächlich an ein romantisches Gedicht mit dem typischen Spannungsfeld zwischen Natur und Individuum.
Whose woods these are I think I know
His house is in the village though;
He will not see me stopping here
To watch his woods fill up with snow.
My little horse must think it queer
To stop without a farmhouse near
Between the woods and frozen lake
The darkest evening of the year.
He gives his harness bells a shake
To ask if there is some mistake.
The only other sound’s the sweep
Of easy wind and downy flake.
The woods are lovely, dark and deep.
But I have promises to keep,
And miles to go before I sleep,
And miles to go before I sleep.[ 87 ]
Der Mann, vor dessen Wald ich steh
wohnt fern im Dorf, kann mich nicht sehn:
Er weiß nicht, dass ich Halt gemacht
und schau auf seinen Wald voll Schnee.
Was hat mein Rappe wohl gedacht?
Mein Weg hat uns weit fort gebracht
zum See aus Eis, von Wald umstellt
in dieses Jahres tiefster Nacht.
Er schüttelt sich, sein Glöckchen schellt,
weil er’s für ein Versehen hält.
Nur sanftes Rauschen, sonst kein Ton,
wenn Schnee im Wind wie Daunen fällt.
Der Wald ist schwarz und lieblich nun.
Was ich versprochen, muss ich tun,
und Meilen gehn, dann kann ich ruhn,
und Meilen gehn, dann kann ich ruhn.[ 88 ]
Die weihnachtliche Naturidylle mit Wald, See und Schneeflocken, die auf der textuellen Oberfläche skizziert wird, verbirgt eine zutiefst existenzialistische Frage nach der Verantwortung des Menschen, der gebunden an ein implizites Versprechen Aufgaben auszuführen hat. Ähnlich wie die Lyrik der Romantik oder des Transzendentalismus, die sich unkonventioneller Erzählperspektiven, wie zum Beispiel dem Blickwinkel geistig beeinträchtigter Personen bediente, um den unversperrten Blick auf Dinge zu ermöglichen, wählt Frost hier teilweise die ungewöhnliche Perspektive eines Pferdes. Die Sichtweise des Tieres bringt sozusagen instinktiv die Absurdität der Situation, sich bei Kälte außerhalb der menschlichen Gemeinschaft aufzuhalten, auf den Punkt. Ob das Gedicht Todessehnsucht ausdrückt oder Abkehr davon aufgrund der Einsicht um die Verantwortung, die das Leben beinhaltet, bleibt Interpretation. Auch ob es sich um ein parodistisches Gedicht über einen arbeitsmüden Weihnachtsmann handelt, wie meine junge Tochter einmal spontan meinte, muss dahingestellt bleiben. Wichtig erscheint, wie Frost das typische amerikanische Setting im Spannungsfeld von Wildnis und Zivilisation für existenzialistische Zweckenutzt und sich damit im direkten Gegensatz zu den kosmopoliten Imagisten positioniert.
Dieser Gegensatz von Autochthonem und überkommener internationaler Tradition liegt auch
Wallace Stevens
’ (1879–1955) Gedicht «Anecdote of the Jar» (1919) zugrunde.
I placed a jar in Tennessee,
And round it was, upon a hill. […][ 89 ]
Ich stellte ein Einweckglas in Tennessee,
und rund war es, auf einen Hügel. […][ 90 ]
Bereits die beiden Eingangsverse erscheinen wie eine Persiflage auf «Ode on a Grecian Urn» (1819), in dem der romantische Dichter John Keats eine antike griechische Vase als zentrales Objekt seines Gedichts wählt. Ganz ähnlich benützen die großen amerikanischen Exilmodernisten Pound und Eliot ebenfalls diese nicht-amerikanische klassische Kulturtradition mit ihren Mythen und literarischen Denkmälern als Ausgangspunkt ihrer Erneuerungsbewegung. Indem Stevens die Keats’sche
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