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Literaturgeschichte der USA

Literaturgeschichte der USA

Titel: Literaturgeschichte der USA Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Klarer
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Sittenbilder, die meist um eine Protagonistin kreisen, erinnern in ihrem Fokus auf Etikette sowie der Thematisierung des Europäischen in mehr als einer Hinsicht an die Romane von Henry James. Während sich die Figuren feministischer Autorinnen großteils aus ihren patriarchalen Rollenbildern lösen, bleibt z.B. Lily Bart als Protagonistin in
The House of Mirth
(1905) in ihrer zugedachten Funktion als dekoratives Objekt männlicher Begierde verhaftet und wird zum Spielball des Heiratsmarktes der New Yorker Oberschicht. Die mittellose Lily Bart kann am Ende ihr einziges Kapital – ihr gutes Aussehen – strategisch nicht richtig einsetzen und fällt so aus der Ökonomie weiblicher Selbstvermarktung. Sie stirbt in ärmlichen Verhältnissen. Edith Whartons Werk, das sich bis in die 1930er Jahre erstreckt, ist in seiner Grundkonzeption thematisch und stilistisch dem Sittenroman verpflichtet, ohne von der Welle erzähltechnischer Innovationen des Modernismus am Beginn des 20. Jahrhunderts erfasst zu werden.

VII. Modernismus
    Ganz im Gegensatz zu Wharton, die stilistisch und thematisch dem 19. Jahrhundert verhaftet zu sein scheint, griffen andere Autoren vor der Jahrhundertwende wie
Ambrose Bierce
(1842–1913) in ihren erzähltechnischen Experimenten dem Modernismus teilweise bereits weit vor. In der Kurzgeschichte «An Occurrence at Owl Creek Bridge» (1890) spielt Bierce mit Raum und Zeit als zwei Dimensionen, die in der Ästhetik des frühen 20. Jahrhunderts einen zentralen Stellenwert erhalten. Hauptfigur der Kurzgeschichte ist Peyton Farquhar, ein Soldat des amerikanischen Bürgerkriegs, der auf einer Eisenbahnbrücke mit dem Hals in der Schlinge seiner Exekution entgegenblickt. Im Fallen spürt Farquhar das Reißen des Strickes, taucht in den unter der Brücke fließenden Fluss und kann sich schwimmend vor seinen Verfolgern retten. Im weiteren Verlauf wird seine Flucht geschildert, bis er schließlich erleichtert in sein Haus zurückkehrt und dort todmüde in die Arme seiner Ehefrau sinkt.
    As he is about to clasp her he feels a stunning blow upon the back of the neck; a blinding white light blazes all about him with a sound like the shock of a cannon – then all is darkness and silence!
Peyton Farquhar was dead; his body, with a broken neck, swung gently from side to side beneath the timbers of the Owl Creek bridge.[ 79 ]
    Als er sie umarmen will, fühlt er einen betäubenden Schlag im Genick; ein blendendes weißes Licht flammt um ihn her mit einem Dröhnen wie der Abschuß einer Kanone – dann ist alles Dunkelheit und Stille!
Peyton Farquhar war tot; sein Körper schaukelt mit gebrochenem Hals sanft von einer Seite zur anderen unter den Schwellen der Owl-Creek-Brücke.[ 80 ]
    In den letzten Zeilen der Geschichte wird uns als Leser klar, dass der Großteil der Handlung, der mehrere Stunden der vermeintlichen Flucht umfasst, eigentlich nur Sekundenbruchteile vor dem Tod während des Falls ins Seil ausmacht. Farquhar imaginiert in einer traumartigen Sequenz ein mögliches Entkommen, bevor der Sturz ihm das Genick bricht. Zeit wird in dieser Kurzgeschichte relativiert und ähnlich einer Traumsequenz extrem gestreckt.
    Bierces Kurzgeschichte führt den Leser auf ähnliche Weise vor wie Edgar Allan Poes «tales of ratiocination», da wir erst am Ende des Textes den Schlüssel zum Verständnis der Handlung erhalten und uns erst dann die verpassten Hinweise im Text bewusst werden. Wie Poe weist auch Bierce in Richtung neuester Erzählstrukturen im Hollywoodkino à la
The Sixth Sense
(1999), die ebenfalls mit einem überraschenden Ende die gesamte Handlung rückblickend in ein neues Licht stellen. Wie ungebrochen das Interesse an der Relativierung der Dimension Zeit auch heute noch ist, verdeutlicht z.B. Christopher Nolans Film
Inception
(2010), der auch mit Traumzeit in Relation zur realen Zeit spielt. In seiner psychologischen Dimension und experimentellen Zeitstruktur nimmt «An Occurrence at Owl Creek Bridge» aber vor allem zentrale Aspekte des Modernismus der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts vorweg.
    In der Forschung wird der Modernismus häufig als Ära von Raum und Zeit bezeichnet, weil in allen Lebensbereichen eine intensive Beschäftigung mit diesen beiden Parametern der Wirklichkeitserfahrung erfolgt. Ausgehend von bahnbrechenden Erfindungen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert im Transportwesen mit Dampfschiff, Eisenbahn, Auto und Flugzeug, in der Kommunikation mit Telegraf und Telefon sowie in

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