Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
war ich mit Liam kurz bei der Protestkundgebung, aber ich muss gestehen, dass ich nicht sonderlich häufig auf Demos bin.«
»Als ich noch ein junger Mann war, gingen wir fast ständig demonstrieren. Die Reagan-Ära war sehr turbulent in San Francisco. Aber seitdem ist es auch bei mir weniger geworden. Ich frage mich bloß, wann hier endlich mal was passiert? Früher gab’s doch Reden und so was.«
»Na ja, du könntest jederzeit eine halten, wenn du willst. Ich denke, sehr viele Leute würden gern hören, was du zu sagen hast.« Ich erklärte ihm das menschliche Mikrofon. Er hatte schon davon gehört, es aber noch nie im Einsatz erlebt.
»Klingt wie ein Mikro, das nur funktioniert, wenn die Leute glauben, dass man auch was zu sagen hat«, überlegte er. »Das gefällt mir.«
»Magst du es mal probieren?« Nachdem man mich tags zuvor in diese Situation gebracht hatte, verspürte ich große Lust, dasselbe mit jemand anderem zu tun. Und schließlich war Joe ja ein richtiger Politiker mit der unheimlichen Gabe, mit einem Blick und ein paar Worten das Vertrauen der Menschen zu gewinnen.
Er schaute sich um und schien es ernsthaft in Erwägung zu ziehen. »Ja, ich glaube, das würde ich gern machen.«
»Jetzt gleich?«
Er grinste. »Aber sicher doch – bevor ich es noch mit den Nerven kriege und heimgehe.«
Ich legte die Hände an den Mund. Erst war mir etwas unwohl zumute, doch dann brüllte ich aus vollem Hals: »Mic-Check!«
Ein gutes Dutzend Leute nahm den Ruf auf. Ich wiederholte ihn noch zweimal, bis ein paar Hundert Menschen ringsum »Mic- Check« riefen und darauf warteten, dass Joe begann.
Joe hatte sich derweil mit dem Fahrer eines nahe geparkten Autos verständigt, der nun ausstieg und sich auf die Stoßstange setzte. »Dieser nette Herr hier hat sich erboten, mir die Motorhaube seines Fahrzeugs als Bühne zu überlassen«, erklärte Joe. Der Fahrer, ein älterer Asiat in Sakko und Turnschuhen, schaute geduldig und neugierig zu. Die ganze Menge war bemerkenswert gut gelaunt – für eine Zusammenrottung angepisster Menschen waren wir eigentlich alle gut drauf. Vielleicht, weil wir gemerkt hatten, wie vielen unserer Nachbarn es ähnlich ging.
Joe kletterte leichtfüßig auf die Motorhaube, wankte einmal und fand dann sein Gleichgewicht.
»Mein Name ist Joe Noss, und ich trete als unabhängiger Kandidat für den Senat von Kalifornien an – doch nicht deshalb bin ich heute hier.«
Das war viel zu lang fürs menschliche Mikrofon und geriet in der Wiederholung nur durcheinander. Joe ließ sich aber nicht aus der Fassung bringen. Er setzte einfach wieder sein ernstes Gesicht auf und begann von vorn.
»Tut mir leid.«
»Tut mir leid«, sagte das menschliche Mikro.
»Mein Name ist Joseph Noss.
Ich trete als unabhängiger Kandidat an.
Für den Senat von Kalifornien.
Ich hätte mich von den Demokraten aufstellen lassen können.
Wahrscheinlich auch von den Republikanern.
Aber ich wollte unabhängig bleiben.
Auch wenn es heißt.
Man könne in diesem Land nicht gewinnen.
Wenn man zu keiner Partei gehört.
Vielleicht stimmt das ja.
Doch ich war mein ganzes Leben lang Demokrat.
Und die Schnüffelei, die Kriege, die kriminellen Banker.
Das ist nicht meine Demokratische Partei.
Die Republikaner haben nichts Besseres zu bieten.
Denn etwas stimmt nicht mehr.
In unserem Land.
Mit unserer Welt.
Die Ideale von Gerechtigkeit und guter Nachbarschaft.
Sie sind einfach verschwunden.
Stattdessen haben wir einen Kult.
Der Gier und Kurzsichtigkeit.
Und des Durchlavierens.«
Er hatte nun den Tonfall eines Predigers und eine Stimme wie ein Megafon. Geduldig legte er nach jedem Satz oder Satzteil eine längere Pause ein, bis die Massen seine Worte kreisförmig in alle Richtungen getragen hatten. Der Besitzer des Autos wirkte jetzt nicht mehr leicht belustigt, sondern völlig hingerissen.
»Ich habe keine Antwort darauf.
Die hat vermutlich niemand.
Wir werden sie wohl nur finden.
Wenn wir aufhören.
Alles noch schlimmer zu machen.
Wir brauchen Politiker.
Die für die Menschen eintreten.
Nicht für das Geld.
Das bin ich immer gewesen.
Und das will ich weiterhin sein.
Wir haben ein Büro in der Mission Street, Kreuzung 23ste.
Das ist jeden Werktag geöffnet.
Ihr könnt jederzeit vorbeikommen.
Sagt uns, was ihr euch von eurer Regierung erwartet.
Und wir sagen euch, was wir vorhaben.
Und natürlich könnt ihr unsere Webseite besuchen.
Googelt einfach Joe Noss.«
Er warf mir ein Grinsen zu.
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