Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
hatte ich das Gefühl, dass die Stimmung der Leute irgendwie umschlug. Es wurde allmählich auch dunkler und kälter. Begonnen hatte der Tag noch als einer jener typischen Septembertage, die in San Francisco so heiß sind wie anderswo im Juli; nun aber zog eine jener nebligen San-Francisco-Nächte herauf, die einem bis ins Mark gingen. Aus der allgemeinen Aufregung wurde immer mehr Wut und Angst, und es kam mir so vor, als hörte ich immer öfter das Knistern von Polizeifunk und das Dröhnen von Helikoptern und Drohnen über uns.
In der Nähe der McAllister Street gerieten wir in dichtes Gedränge und kamen nicht mehr richtig voran, also verfolgte ich auf dem Handy, was Lemmys Copter von oben sahen. Es war wirklich deutlich mehr Polizei im Einsatz. Einer der Copter flog die Ränder der Demonstration ab, und als er eine Kurve beschrieb, konnte ich einen Konvoi von Polizei- und Militärfahrzeugen sehen, der sich endlos bis zum Embarcadero zu erstrecken schien. Entweder rückten da gerade eine Fantastillion Polizisten an, oder sie wollten eine Fantastillion Demonstranten abtransportieren … Oder beides.
»Lemmy, sieh mal.« Ich zeigte ihm die Szene auf meinem Handy. Ange drückte meine Hand etwas tiefer, damit sie auch etwas sah – ich hatte im Augenblick so viel Schiss, dass ich ihre zierliche Statur vergessen hatte. Und dafür musste man schon ziemlich viel Schiss haben, denn Ange reagierte gar nicht gut darauf, wenn man keine Rücksicht auf kleinere Leute nahm.
»Wird Zeit, dass wir verschwinden«, meinte Lemmy.
»Sehe ich auch so.« Wir schauten uns nach dem kürzesten Weg aus der Menge um. Allmählich schlug die Nervosität der Leute in Angst um. Wahrscheinlich waren wir nicht die Einzigen, die die anrückenden Horden bemerkt hatten.
Ich musterte mein Handy.
»Irgendwas ist komisch.«
Ange riss wieder meinen Arm runter. »Könntest du bitte etwas konkreter sein?«
»Nein, leider nicht. Aber irgendwas stimmt nicht.«
Lemmy kniff die Augen zusammen.
»Keine Polizeidrohnen mehr«, sagte er dann.
Wir schauten hoch. Die Zahl der Fluggeräte war sichtlich zurückgegangen.
»Woher weißt du, dass es die Polizeidrohnen sind, die weg sind?«
»Weil die am tiefsten fliegen. So kriegen sie die Gesichter besser drauf.«
Mein Mund wurde trocken. »Wieso sollten sie ihre Drohnen abziehen?«
Lemmy verdrehte die Augen. »Vielleicht wollen sie keine Videos von dem, was gleich passiert?«
»Oder was immer sie vorhaben ist schlecht für die Elektronik«, meinte Ange.
Lemmy und ich schauten sie an. Sie blickte entschlossen wie ein Pitbull und kramte in ihrer Tasche, bis sie zwei Schwimmbrillen und ein paar einfache Malermasken fand. Eine Brille zog sie auf, die andere reichte sie mir. Dann tränkte sie die Malermasken in Magnesiumhydroxid. Wir zogen sie über und wollten Lemmy auch eine reichen, doch der hatte sich über seinen Rucksack gebeugt und wühlte wie wild darin herum.
»Lemmy«, rief ich und wedelte mit der tropfnassen Maske vor seinem Gesicht. Die Flüssigkeit würde die Wirkung der meisten Sorten Pfefferspray etwas neutralisieren, und auch wenn sie etwas anderes einsetzten, war eine feuchte Maske immer noch besser als eine trockene.
Er richtete sich so rasch wieder auf, dass er mich am Kinn erwischte und umgehauen hätte, wäre dafür genug Platz gewesen. Die Leute hinter mir fingen mich auf, und ich bedankte mich flüchtig. Als ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Lemmy richtete, hielt er uns einen silbernen Beutel hin.
»Eure Handys«, sagte er. »Schnell!«
Ich erkannte, was er da hatte: einen Faraday-Beutel. Darin kann man seine Ausweise mit RFID -Chips, Mautstellen-Transponder und sonstige Elektronik verwahren, wenn man nicht will, dass jeder sie auslesen kann.
Doch solche Beutel waren nicht bloß nützlich, wenn man seine Sachen daran hindern wollte, mit der Außenwelt zu kommunizieren; sie hinderten auch Funkwellen von draußen daran, hineinzugelangen. Ich riss mein Handy so schnell aus der Hosentasche, dass ich mein Kleingeld über den Boden verteilte. Ange war mir schon zuvorgekommen. Alle drei warfen wir unsere Handys in den Beutel, Lemmy zog ihn zu und steckte ihn in seinen Rucksack, dann streifte auch er sich seine Maske und eine Schutzbrille über.
Die Leute um uns herum hatten gesehen, was wir machten, und viele taten es uns gleich. Andere gerieten in Panik und begannen zu drängeln. Oh Gott, wenn jetzt eine Massenpanik ausbricht, dann kommen wir noch alle um …
Und in diesem Moment
Weitere Kostenlose Bücher