Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
die mich stützte und dabei gleichfalls einen halben Schritt zurück tat.
Doch die nächste Welle war schon stärker. Jetzt wichen die Menschen nicht nur einen halben Schritt, sondern anderthalb Schritte zurück, und ich bekam einen Ellbogenstoß auf den Solarplexus, sodass mir die Luft wegblieb und ich gestürzt wäre, hätte ich Platz dafür gehabt. Danach ging es dann schon zu wie in einem Pogo-Pit, die nächste Welle glich einem Erdbeben, und die danach war … wie in einer Menge von Hunderttausenden panischer Menschen zu stecken, die völlig von Sinnen und verrückt vor Angst waren.
Dann hatte jemand eine brillante Idee.
»Mic-Check!«
Zuerst war ich verwirrt. Wer zum Teufel glaubte ernsthaft, dies sei ein guter Zeitpunkt für eine Rede? Natürlich ging es aber nicht ums Reden, sondern darum, durch die animalische Furcht der Menschen zu dringen und an ihren Verstand zu appellieren – den Teil des Gehirns, der wusste, dass Drücken und Schieben nur zu einer Katastrophe führen konnten.
»Mic-Check!«, wiederholte ich, und andere schlossen sich mir an.
»Mic-Check!«
»Mic-Check!«
Der Ruf breitete sich in konzentrischen Kreisen durch den menschlichen Schwarm aus, und wo er gehört wurde, beruhigten sich die Leute. Ein Greiftrupp der Polizei schob sich so nahe an mir vorbei, dass ich den Männern ein Bein hätte stellen können, doch ich tat nichts dergleichen, zuckte nicht einmal zusammen. Die Ruhe hatte nun auch mich erfasst; die Ruhe aus dem Tempel, die Ruhe, die ich in solchen Momenten immer gesucht, aber so selten gefunden hatte.
Einer der kräftigen SFPD -Typen kam auf mich zu. Am Gürtel trug er alle mögliche Ausrüstung, und unwillkürlich fragte ich mich, wozu die ganzen Gadgets wohl gut waren. Ein paar Schritte von mir entfernt hielt er vor einer Frau und einem Mann, die Freunde meiner Eltern hätten sein können. In der guten alten Zeit hatten sie häufiger Leute wie sie zum Essen eingeladen oder sich zum Kino mit ihnen verabredet.
Der Polizist herrschte sie an, und sie präsentierten ihm ihre Ausweise. Daraufhin zückte er einen PDA und tauchte die Ausweise kurz ins Licht eines roten Lasergitters, wie beim Scanner an einer Supermarktkasse. Er studierte einen Moment lang sein Display, dann steckte er das Gerät wieder weg und sprach auf die beiden ein, bis sie ihm schließlich ihre Handys aushändigten. Sie mussten im Schatten der Funkfrequenzen gestanden haben, sodass ihre Handys den elektromagnetischen Impuls überlebt hatten. Der Polizist beäugte eine Weile die Anschlüsse auf der Unterseite der Handys, ehe er ein passendes Kabel zutage förderte. Damit verband er die Handys mit einem der geheimnisvollen Kästen an seinem Gürtel. Ich glaubte zu verstehen: Die Polizei kontrollierte die Leute erst, dann kopierte sie alle Daten von deren Handys, ehe sie sie gehen ließ.
Ich war sprachlos. Irgendwie kam mir das fast schlimmer vor als die willkürlichen wortlosen Festnahmen. Schließlich befanden sich auf diesen Handys jede Menge intimer Informationen: die persönlichen Passwörter der Besitzer, Adressbücher, die Auskunft über Freunde und Familie gaben, GPS -Profile aller besuchten Orte, Browserlogs aller besuchten Websites, IM s, Profil- und Firewall-Updates, Tweets. Ich konnte es nicht fassen.
Als der Polizist fertig war, nahm er einen Stift aus einer kleinen Tasche am Arm und kritzelte den beiden etwas auf die Handrücken. Das Paar wirkte vollkommen benommen und entsetzt. Schließlich grinste der Polizist sie an und erklärte ihnen wortreich noch etwas, doch sie nickten nur stumm. Dann gab er ihnen einen freundlichen Klaps auf die Schulter und wies ihnen mit dem Finger einen Weg aus der Menge. Ich drängte mich durch die Menschen, um sie abzufangen.
»Hey«, rief ich. »Warten Sie!«
Sie blieben stehen.
»Was hat er zu Ihnen gesagt? Der Bulle, meine ich.«
Der Mann – um die sechzig, freundliches Gesicht, kleiner Oberlippenbart, leichter Südstaatenakzent – erwiderte: »Er meinte, wir sollten das jedem zeigen, der uns aufhält, dann würde man uns durchlassen.« Er deutete auf das gekritzelte Zeichen auf seinem Handrücken. Es sah fast wie das Kennzeichen eines Sprayers aus; vielleicht waren es die Initialen des Polizisten. »Spezialtinte«, erklärte er.
»Hat er die Daten Ihrer Handys kopiert?«
Die Frau nickte. Sie war etwa so alt wie er, trug ihr Haar lang und klobigen Holzschmuck an Armen und Hals. Vielleicht ein altes Hippiemädchen. »Ja. Und er hat unsere Fotos
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