Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
gelöscht.« Ein Schatten fiel auf ihr Gesicht. »Ich hatte Bilder meiner Enkel drauf.« Ihre Stimmen klangen, als wären sie beide in einem Traum oder Albtraum gefangen.
»Danke«, sagte ich.
»Keine Ursache«, erwiderten sie und gingen weiter.
Der Polizist war mittlerweile schon beim nächsten Demonstranten. Wieder las er den Ausweis ein und nahm dem Mann sein Handy ab. Dieses Mal durchsuchte er ihn aber auch. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass der Mann schwarz war. Der Bulle durchsuchte seine Sachen, Hosen- und Jackentaschen. Das Handy hatte sich währenddessen ausgeschaltet, und der Bulle zwang ihn, es wieder zu entsperren. Der Schwarze sah aus, als wollte er am liebsten losheulen – oder dem Bullen eine reinschlagen. Dem aber machte das Ganze sichtlich Spaß. Dann kritzelte er dem Schwarzen sein Zeichen auf die Hand und schickte ihn weiter.
Ange und Lemmy hatten ebenfalls alles verfolgt. Wir tauschten entsetzte Blicke. Wieder sandte ein Greiftrupp der Polizei Stoßwellen durch die Menge, und diesmal stürzte ich tatsächlich hin und schlug mir die Hände auf dem Boden auf. Der Schmerz machte mich hellwach, und auf einmal wusste ich, was ich zu tun hatte.
»Mic-Check!«, rief ich.
Ange warf mir einen verunsicherten Blick zu.
»Mic-Check!«, rief ich wieder.
Ange wiederholte es, und Lemmy auch. Die Menge griff den Ruf auf.
»Die Polizei scannt eure Ausweise.
Und kopiert die Daten von euren Handys.
Sie löscht eure Fotos.
Ohne jede Befugnis.
Ohne eine Anklage.
Das ist illegal.
Das ist ein Verbrechen.
Es ist auch dann ein Verbrechen, wenn die Polizei es macht.
Die Polizei kann die Gesetze nicht biegen, wie es ihr passt.«
Der Polizist bekam das mit und schaute mich an. Ich widerstand dem Drang, immer schneller zu reden. Das menschliche Mikro erforderte eine ruhige, klare Ausdrucksweise.
»Lasst euch das nicht gefallen.
Verlangt einen Anwalt.
Erlaubt ihnen nicht, das Gesetz zu brechen.«
Der Bulle bahnte sich einen Weg durch die Menge, kam auf mich zu und griff dabei nach etwas an seinem Gürtel. Pfefferspray? Ein Taser? Nein, ein langer Streifen Plastikfesseln.
»Ich glaube, er will mich jetzt festnehmen.
Weil ich gesagt habe, dass ihr das Gesetz achten sollt.
Denkt mal darüber nach.«
Der Bulle war schon so nahe, dass er mich hätte packen können, als auf einmal ein Mann aus der Menge trat und sich ihm in die Quere stellte. Ich sah bloß seinen Rücken – ein grüner Armee-Parka, darüber ein Kopf mit langen Haaren, drei Ringe im linken, zwei im rechten Ohr. Ich sah das alles in gestochener Klarheit, fast wie ein Foto, ausgeleuchtet von der Lampe des Polizisten.
Der versuchte, an dem Mann vorbeizukommen, doch zwei weitere Leute versperrten ihm den Weg. Dann noch mehr. Ich trat einen Schritt zurück, und die Leute schlossen ihre Reihen um mich. Der Polizist rief etwas. Niemand wiederholte es. Er verfügte nicht über das menschliche Mikro.
»Ihr Polizisten könnt jetzt gehen.«
Ich weiß nicht, was mich da ritt. Es platzte einfach aus mir heraus.
»Ihr Polizisten könnt jetzt gehen.« Die Menge wiederholte es, immer weiter pflanzte es sich fort.
»Ihr Polizisten könnt jetzt gehen.« Es wurde zu einem Schlachtruf. »Ihr Polizisten könnt jetzt gehen!«
Fünf einfache Worte. Nicht »Scheißbullen, zieht ab!« oder etwas in der Art. Eine Gruppe von Menschen stellte lediglich fest, dass sie sehr gut auf sich selbst achtgeben konnte und keinen Bedarf am »Freund und Helfer« hatte, der sie wie ungezogene Kinder ins Bett schicken wollte.
»Ihr Polizisten könnt jetzt gehen!«
Der Bulle blieb stehen. Sein Gesicht zeigte nicht mehr den selbstbewussten, herablassenden Ausdruck, mit dem er zuvor den Leuten begegnet war, sondern eine Mischung aus Wut und Erschrecken. Seine Hand wanderte zum Gürtel, an dem alle möglichen Gegenstände hingen, manche mit Pistolengriffen, manche in Form von Sprühflaschen. All das »nichttödliche Waffen«, mit denen er uns Stromschläge geben, eingasen und bewegungsunfähig machen konnte. Immer mehr Leute schlossen sich der Menge zwischen ihm und mir an, und wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte, konnte ich erkennen, dass sich die Menge hinter ihm geteilt und eine Gasse für ihn gebildet hatte, damit er sich zurückziehen konnte.
»Ihr Polizisten könnt jetzt gehen!«
Hunderte von uns riefen das jetzt. Wir waren nicht mehr wütend. Wir lachten aber auch nicht. Es ging uns nicht umSpott. Wir haben das unter Kontrolle. Wir brauchen euch nicht.
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