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Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cory Doctorow
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vor dem Tränengaseinsatz losgeschickt, und nachdem die Polizei dachte, dass alle Kameras tot seien. Der Tweet, der auf den Feed hinwies, war zwar nicht rausgegangen, aber gespeichert müsste er die Aufnahmen dennoch haben. Ich hackte auf meinen Laptop ein, und ein paar Minuten später hatte ich den File gefunden.
    Es war alles in geisterhaftes Nachtsicht-Grau getaucht, mit Falschfarbenklecksen in Orange und Rot, wo sich die Menschen scharten. Die Polizei stach heißer heraus als der Rest, Hände und Füße hellrote Flecken – wurden ihre Stiefel und Handschuhe etwa irgendwie gewärmt? Den Einsatz der HERF -Guns hatten wir leider nicht mit drauf, dafür ein paar klasse Bilder der kleinen Zeppeline, wie sie losflogen, wie boshafte Jahrmarktsballons Position bezogen und ihren chemischen Regen vergossen. Auf den Schirmen sah es so aus, als ergösse sich ein graues, statisches Rauschen über die schreiende, entsetzte Menge. Endlos ging es so weiter, ein Luftschiff nach dem nächsten, Welle auf Welle erstickender chemischer Tröpfchen.
    Ich hatte das alles am Boden miterlebt, doch ich hatte es nicht gesehen, wie ich es jetzt sah – Tausende und Abertausende Amerikaner aller Couleur, wie sie würgten und hinstürzten: Kinder, Mütter, Väter, Alte, Junge, die sich am Boden krümmten und übereinander krochen, sich übergaben und schrien. Ich weiß, dass es Schlimmeres gibt – ich kenne die Bilder von Bomben, die über Städten abgeworfen werden, von Senfgas in den Schützengräben, von Menschen, die reihenweise von Maschinengewehren umgemäht werden.
    Doch das war hier. Dies war San Francisco. Das Amerika des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Und doch war ich dabei gewesen. Gerade erst eben.
    Und das Leben ging weiter wie zuvor. Die Welt hatte nicht angehalten. Niemand hatte erklärt, dass jetzt »alles anders« sei. Niemand würde sich an diesen Tag als den Tag erinnern, der »alles verändert« hatte.
    Hätten ausländische Mächte oder religiöse Terroristen auf den Straßen San Franciscos Hunderttausende Amerikaner angegriffen, würden sie bei der Regierung bereits die Möbel rücken, um Platz für all die neuen Behörden und Beamten zu schaffen, die dann mit wehenden Fahnen geritten kämen, um zu verkünden, so etwas dürfe sich »niemals wieder auf amerikanischem Boden« ereignen. Wieso eigentlich war dieses Tränengas durch den Umstand, dass wir es mit den eigenen Steuergeldern bezahlt hatten, hinnehmbar?
    Ich wollte das alles online stellen, aber ich hatte nicht mehr die Energie, wieder ganz von vorn anzufangen, noch eine Darknet-Seite hochzuziehen und die Leute irgendwie darauf zu stoßen. Ich wollte schon zurück ins Bett, als es mir aufging: Diesmal brauchte ich das Darknet nicht. Dieses Video gehörte uns, Lemmy und mir. Es war kein Geheimnis, wer es gedreht hatte – oder wo. Ich musste lachen. Ich konnte das einfach bei YouTube hochladen. Ich konnte es über meinen eigenen Account twittern! Ich hatte mich so an die Geheimniskrämerei gewöhnt, dass ich es gar nicht mehr anders kannte.
    Also lud ich das Video beim Internet Archive und bei YouTube hoch und verbreitete es vorsichtshalber auch als Torrent. Dann schrieb ich noch einen kurzen Text, in dem ich erklärte, dass ich diesen Film auf der Demo nach dem HERF -Einsatz gedreht hatte, twitterte das Ganze und kroch wieder unter die Bettdecke.
    Um sechs Uhr früh klingelte mich Ange aus dem Bett. Natürlich hatte ich am Vorabend vergessen, mein neues Handy bis um sieben auf lautlos zu stellen. Der schrille Klang bohrte sich also zu nachtschlafender Stunde in meinen Kopf und riss mich aus dem Land der Träume. »Morgen, meine Schöne«, murmelte ich.
    »Du hättest mir auch sagen können, dass du ein Video vom Tränengaseinsatz hast.«
    »Hatte ich vergessen.« Ich war immer noch nicht richtig wach.
    Es gab eine längere Pause am anderen Ende. »Du hast es vergessen ?«
    »Ich hab vergessen, dass es dieses Video überhaupt gibt.«
    Wieder Stille. »Okay, unter anderen Umständen wäre das eine ziemlich schwache Ausrede, aber ich schätze mal, du hattest in letzter Zeit eine Menge um die Ohren. Okay, du kommst noch mal davon. Aber trotzdem! Scheiße, Mann, was denkst du dir eigentlich?«
    »Interessiert es denn irgendwen?«
    »Auf YouTube wurde es eine Million Mal angeklickt, bevor man es löschen ließ. Die Version beim Archive ist noch da, und der Torrent wird von gut tausend Leuten geseedet.«
    »Man hat es löschen lassen? Alles klar.« Ich wäre gerne

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