Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
reagierte sie nur auf Anrufe, die als »Mom« angezeigt wurden, und ignorierte den Rest. Vielleicht war auch der Akku leer. Wenn das der Fall war, kam ich gar nicht mehr an mein Handy, solange sie nicht Kontakt mit mir aufnahm. Na super. »Wo steckt Joe jetzt?«
»Auf einer Pressekonferenz zum Thema bei den Rootstrikers. Das sind irgendwelche Aktivisten, die gegen den Filz von Kapital und Politik eintreten oder so. Die sind ziemlich aufgeregt wegen der Sache.«
»Alles klar.« Ich ließ mir das, was Liam gesagt hatte, durch den Kopf gehen. Im Großen und Ganzen hatte Joe einfach nur meine Idee genommen und umgesetzt, und bislang schien es zu funktionieren. Bis jetzt jedenfalls. Wie lange das gut gehen würde, war aber nicht mein Problem. Mein Job war es, die Website am Laufen zu halten, während Joe damit beschäftigt war, einfach er selbst zu sein. Der Kaffee durchströmte meine Venen und verwandelte mein dickes, träges Blut in Quecksilber. Es wurde Zeit, dass ich mich wieder ein wenig mit der Technik befasste. Das war schließlich meine Stärke.
»Was ist mit meiner anderen Idee, der Stimmensammel-Software?«
»Davon hat Joe mir auch erzählt, aber ich wurde nicht richtig schlau draus. Du willst die Kontakte der Leute aus ihren sozialen Netzwerken mit einspannen?«
»So was in der Art.« Ich erklärte es ihm.
»Klingt nach einer klasse Idee. Das könnten wir auch gut gebrauchen, wenn wichtige Entscheidungen anstehen, selbst nach der Wahl, wenn er’s schafft – für spontane Umfragen zum Beispiel, damit wir sehen, was die Leute von uns erwarten. Das klingt echt geil. Machen wir das?«
»Wenn wir noch die Zeit dafür haben, jetzt, wo die Darknet-Docs online stehen.« Es war schon komisch: Obwohl diese Dokumente praktisch mein ganzes Leben vereinnahmt hatten, machte mich diese andere Idee gerade deutlich mehr an. Am liebsten hätte ich mich nur noch darauf konzentriert. Ich musste mir irgendwie Zeit dafür freischaufeln.
Doch erst mal musste ich unsere Infrastruktur absichern.
Ich hielt es für sinnvoll, uns in der Cloud auf möglichst viele Server zu verteilen. Meine Vorgängerin hatte uns bei Amazon gehostet, was so robust war, wie man sich nur wünschen konnte – ein unermessliches Netzwerk von summenden Servern in Rechenzentren auf der ganzen Welt, unter der Obhut einer weißbekittelten Priesterschaft, die jede schadhafte Komponente in weniger als zwei Minuten fand und austauschte, am Leben gehalten von Glasfaserbündeln so dick wie mein Arm. Allein die Kühlung einer solchen Anlage hatte die CO 2 -Bilanz einer ganzen Stadt. Rein vom technischen Standpunkt aus gesehen, war Amazon eine ziemlich gute Wahl.
Leider war Amazon jedoch eine eher bescheidene Wahl, wenn die Bullen einen auf der Abschussliste hatten. Das Problem ist, dass die Polizei es nicht wirklich draufhat, bloß die Daten eines einzelnen Kunden in einem solchen Servernetzwerk zu beschlagnahmen. Wenn sich die Bullen so richtig für einen interessieren, dann muss man sich darauf einstellen, dass jemand bei Amazons Anwälten anruft und sagt: »Wir müssen uns einen Ihrer Kunden mal genauer anschauen. Aber da wir nicht wissen, wie wir das machen sollen, kommen wir einfach mit sechzehn Sattelschleppern vorbei und nehmen alles mit, bis wir mit unserer Untersuchung fertig sind.« Oder wie der PATE es vielleicht ausdrücken würde: »Eine schöne Cloud, die Sie da haben … Wäre doch ein Jammer, wenn ihr was zustieße.«
Amazon hatte viel erreicht, aber auch viel zu verlieren. Eine gute Wahl für eine nette, langweilige Wahlkampagne, aber keinesfalls geeignet als Ground Zero im neuen Krieg um Information. Im Noisebridge hatten mal ein paar Tor-Hacker einen Vortrag darüber gehalten, und die hatten ein paar mutige Provider erwähnt, die sich für die freie Meinungsäußerung stark machten und vielleicht für uns in Betracht kamen: Exzentriker aus verschiedenen Hackerspaces, Fanatiker für die Redefreiheit und zwielichtige Dienstleister, die mit einem Bein im Pornogeschäft und dem anderen im organisierten Verbrechen standen. Die meisten akzeptierten nicht einmal Kreditkartenzahlungen, weil sie von jeder der großen Firmen, von American Express über Visa und MasterCard bis zu PayPal, längst abgesägt worden waren. Stattdessen zahlte man per Überweisung, über Western Union oder noch umständlicher. Stöhnend schlug ich mir die Hand vors Gesicht; dann ging ich zu Flor, um mit ihr darüber zu reden.
Ich hatte Angst vor dem Gespräch mit ihr.
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